Auf der falschen Seite der Anklagebank

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Hamburgs Radfahrer, die selbstgekrönten Könige der Straße, stehen vor Gericht
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Von Hubertus J. Schwarz   30. April 2011


Hamburg, Deutschland – Sie sind Götter auf Rädern, Könige der Straße und Herrscher über Verkehr und Asphalt. Zumindest fühlen sie sich so. Dabei haben sie weder beeindruckende PS, noch eine laut röhrende Auspuffanlage, nicht einmal der Hubraum ist bemerkenswert. Und trotzdem benehmen sich Radfahrer in den Straßen wie der König in Versailles. Mario K. hat sich dabei als erster in die Analen der Hamburger Gerichtsakten gebracht.

Wenn man in Hamburg durch die Innenstadt schlendert, gibt es genau drei Dinge, die noch über dem durchschnittlichen Passanten in der Nahrungskette stehen. Und vor denen man sich in acht nehmen muss. Autofahrer mit zu viel Geld, Möwen mit zu hoher Treffsicherheit und Radfahrer ohne Verständnis für die Straßenverkehrsordnung.

Mario K. ist sportlich, groß, begeisterter Rennradler und sah sich bis zum Frühjahr 2010 als Alleinherrscher über die Hamburger Bürgersteige und Radwege. Im achten Semester quält sich der blonde Hüne nun schon durch juristische Vorlesungen am Bucerius Forum. Gerade wurde die private Universität zu einer der qualitativ besten Hochschulen für Jura in Deutschland gekürt. Da ist der Leistungsdruck für die Studierenden enorm. Meint Mario. Und so sei es kein Wunder, dass er ab und zu einmal abschalten und sich die vielen Amtsklauseln und Paragrafen aus dem Hirn spülen müsse. „Ab und zu“ heißt jeden ­Freitag und „das Hirn spülen“ kann man nicht nur mit Wasser, gesteht Mario.

Der 14. Mai 2010 war wieder einer dieser Freitage, an dem es für den 25 jährigen aus dem tristen Vorlesungsalltag hinein in das üppige Nachtleben der Hansestadt ging. Für ihn begann der Abend im Uebel & Gefährlich - mit Wodka Red Bull. Die linke Szene brodelte noch, angeheizt durch die Krawalle vom 1. Mai, dem Tag der Arbeit, an dem alljährlich Kundgebungen und Aufmärsche militanter Demonstranten die Vergnügungsviertel der Stadt unsicher machen. Die Stimmung schwankte auf einem schmalen Grat zwischen euphorischer Ausgelassenheit und kritischer Aggression. Körper drängten sich auf den Tanzflächen zu den tiefen Bässen der lokalen DJ-Größen. Der Geruch von Schweiß und Alkohol lag schwer und aromatisch in der Luft. Mario tanzte. Mario trank.

Als er dann, kurz vor Mitternacht, den Anruf eines Studienkollegien entgegen nahm, sprach sein Alkoholpegel von etlichen Kurzen, einer großen, nicht mehr allzu jungfräulichen Pina Colada und diversen Mischgetränken. Die Essenz des Gesprächs: Clubwechsel, in einer halben Stunde, dreihundert Meter die Straße hinunter.

Der Streifenpolizist bemerkte Mario erst, als dieser mit seinem Drahtesel zum dritten mal Anlauf nahm und unter lautem Protest eine Schneise durch die Schlange der Wartenden vor dem Club schlug. Den Unmut der Passanten nahm er bei dem vergeblichen Versuch auf sich, mit gekonntem Schwung in einen der ramponierten Fahrradständer zu steuern. Der Beamte nahm Mario beiseite: „Für dich wird es aber langsam Zeit, nicht wahr?“ Der verständnislose Blick, den ihm der volltrunkene Student darauf zuwarf, war wohl Bestätigung genug. „Lass für heute gut sein?“ Mario nickte und entschwand samt seinem zweirädrigem Gefährten in der Menge.

Stunden später, die Nacht hatte ihren Zenit längst überschritten, fand Mario sich auf der großen Freiheit wieder. Er hatte mehr getrunken, als er vertrug. Genug um seinen Füßen nicht mehr trauen zu können, aber zu wenig um daraus die logischen Konsequenzen zu ziehen. So schwang er sich wie gewohnt auf sein Rad und begann bedenkenlos in Richtung Stadtmitte zu strampeln. Berauscht durch den Alkohol und die Rhythmen der vergangenen Stunden, ging es vorbei an Gruppen von Nachtschwärmern, vorbei auch an den erleuchteten Balustraden des Michel, die sich hell gegen den dunklen Himmel abhoben. Mario querte eine Kreuzung, fuhr nun schnell und mitten auf der Straße abwärts in Richtung Jungfernsteig.

„So zu radeln ist, wie auf einem Trampolin zu hüpfen, hinunter zu steigen und dann zu versuchen auf den Boden zu springen - ein schräges Gefühl.“

Mario bemerkte, wie sich in seinem Blut Alkohol und Adrenalin noch die Waage hielten, trat kräftiger in die Pedale und spürte den Fahrtwind auf seinem erhitzten Gesicht. Die auch nachts grell erleuchteten Schaufenster flimmerten an seinen Augen vorbei. Apple, Snipes, Sportcheck, dann Starbucks und Sør. Im nächsten Augenblick rauschte Mario hinaus auf den Jungfernsteig und vorbei an den Alkoven der Hansalounge. Er spürte, wie seine trägen Augen müde wurden, wie der Fahrtwind sie tränen ließ. Für einen Moment schloss er sie. Und als er seine Augen wieder öffnete, sah er nur noch Blaulicht und schwarze Uniformjacken.

Drei Blocks brauchten die Polizeibeamten um zu Mario aufzuschließen. Erst als sie sich in ihrem Streifenwagen vor ihn setzen konnten, hielt er mitten auf der Fahrbahn an. Die nächste Szene war spielfilmreift, meint Mario. „In Zeitlupe sind die beiden ausgestiegen und zu mir herübergekommen. Nur saß ich eben auf dem Rad und nicht im Auto.“ Wie aus dem Drehbuch auch der anschließende Dialog: „Ihren Ausweis bitte“ ,legte der kleinere der beiden Uniformierten vor. Und nach einen prüfenden Blick auf die ID: „Wissen Sie, warum wir Sie angehalten haben?“ Marios leutselige Antwort: „Ich habe meinen Helm nicht auf?“. Die Blicke die sich die beiden Polizisten darauf zuwarfen, waren alles andere als beruhigend.

Am nächsten Tag, als die schlimmsten Nachwehen des Katers verklungen waren, begann er das unangenehme Ereignis zu verdrängen. Die Polizisten hatten ihn noch einen Alkoholtest machen lassen, Mario dann mitsamt seinem Rad eingepackt und vor seiner Wohnung abgesetzt. „Ich dachte es würde vielleicht ein Strafzettel kommen oder auch nur eine Verwarnung.“

Das Schreiben, dass zwei Wochen später in seinem Postfach lag, übertraf seine Erwartungen bei Weitem. Eine richterliche Vorladung wegen Trunkenheit und fahrlässigem Verhalten im Verkehr. Mit 1,8 Promille sei er, ohne Sturzhelm und ausreichende Fahrradbeleuchtung mit 45 km/h durch eine Fußgängerzone gefahren. Mario ahnte das Urteil noch, bevor er es bekommen hat.

„Acht Semester Jura waren wohl doch nicht ganz umsonst.“

250€ Geldstrafe, 2 Punkte in Flensburg und ein Aufbaukurs im öffentlichen Fahrverhalten. Doch damit nicht genug, als er zwei Wochen später wieder betrunken auf dem Rad angehalten wurde, entzog ihm der Richter nicht nur den Führerschein, sondern erließ ein Sonderfahrverbot für Fahrräder. Der Jurastudent hat sich so einen besonderen Platz in den Hamburger Gerichtsakten verdient. Er ist der erste Bürger, dem aus Mangel an alternativen Strafen das Fahrradfahren verboten wurde. Das Mitwirken an diesem Strafnovum wird er in seiner juristischen Laufbahn jedoch nicht hervorheben können, denn in diesem Fall stand er auf der falschen Seite der Anklagebank.




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*Namen in dieser Reportage wurden auf Wunsch der Betroffenen geändert