Amsterdamer Kampfradler

© ahnungsvoll / Fahrraddschungel / Amsterdam / 2014






















Sei lebensmüde, geh zu Fuß  – Was tun, wenn man in Amsterdam [3]
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Von Hubertus J. Schwarz   23. März 2014

Amsterdam, Niederlande – Was tun, wenn man nach Amsterdam reist. Vielleicht das erste Mal dort ist, oder für den wiederholten Besuch mehr möchte, als dem Drogen-Touristen zu entsprechen. Der dritte Vorschlag:
3. Begegne den Amsterdamer Kampfradlern todesmutig zu Fuß und unbewaffnet.

Gewehrt habe ich mich, mit Händen und Füßen dagegen gesträubt dem Klischee des typischen Touristen zu entsprechen. Noch bin ich gegen die verachtenden Blicke der Einwohner meiner Reiseziele nicht genügend abgestumpft, um ungeniert auf offener Straße mit dem Stadtplan zu hantieren oder alles zu fotografieren, was nicht bei drei mit einem Unterlassungsformular wedelt. Die Art und Weise, wie man als Gast behandelt wird, spottet oft genug der Tatsache, dass die Reisedestinationen doch immer umfassender auf die Einkünfte aus der Tourismusbranche angewiesen sind. 
 
Gerade wenn man sich höflich und zurückgenommen verhält, scheinen viele Frustrierte ihre Chance zu wittern, den angestauten Frust aus den Begegnungen mit ungehobelten Vertretern der Gattung Tourist auslassen zu können. So zumindest kommt es mir nicht selten vor. Während meiner Reise nach Amsterdam dagegen herrscht ein vergleichsweise mildes Klima im täglichen Miteinander. Vielleicht gelingt mir die Tarnung als Einheimischer hier besonders gut, vielleicht liegt es daran, dass die Hauptstadt der Niederlande als solche ohnehin vor Ausländern überquillt, vielleicht sind die Leute aus Amsterdam einfach entspannt oder vielleicht trügt auch der erste Eindruck. 

© ahnungsvoll / Rad Gracht Rad / 2014
In diesen, meinen Gedanken werde ich durch die Stimme aus den Lautsprechern der Fähre unterbrochen. Nächster Halt: "Amsterdam Central Station". Heute werde ich mich in die Innenstadt der Grachtenmetropoloe wagen und meine ersten Impressionen auf die Probe stellen. Mit diesem Vorsatz schlenderte ich aus dem im ewigen Umbau begriffenem Hauptbahnhof hinaus in den Schein der Frühjahrssonne und direkt hinein in ein kafkaeskes Höllenszenario, das sich selbst der verehrte Altmeister Hieronymus Bosch nicht perfider hätte erträumen können.

Von den grellen Strahlen der tief stehen Sonne geblendet, sehe ich zunächst nicht viel mehr als gleißende Helligkeit und wild herumirrende Schemen. Dafür hämmert sich umso deutlicher eine aurale Dystopie in meine Gehörgänge: Es rattert, klingelt, flucht, brüllt, sirrt, klappert und quietscht. Dann trifft ein derber Schlag meine Seite und fegt mich von den Beinen. Jemand schleudert eine derart unterirdische Beleidigung in meine Richtung, dass ich über Hunderte Kilometer noch spüre, wie meine Vorfahren in ihrer Gruft missbilligend die Brauen heben.
Kopfsteinpflaster und meine Wenigkeit kommen sich derweil bedenklich näher, die Begegnung endet mit einem Sieg für den steinernen Kontrahenten. Mit blutiger Stirn flach auf dem Boden liegend, krümme und mache ich mich so klein wie irgend möglich. Stelle mich tot, in der stillen Hoffnung, die infernalischen Dämonen um mich herum würden mir so keine Beachtung mehr schenken. Tatsächlich werde ich nicht von Tausenden Krallen auseinander und hinab in den Höllenschuld gerissen.

© ahnungsvoll /  Professioneller Radler / 2014
Ich blicke auf und sehe das Amsterdamer Grauen live und in technicolor – Radler. Überall und so weit das Auge reicht, rasen Fahrradfahrer wie angesengte Wildsauen durch die Gassen der Innenstadt. Mein Angreifer entpuppt sich als glatzköpfiges Männlein auf einem gewaltigen Drahtesel, der noch immer aus vollem Hals keifend den nächsten Unglückseligen ins Visier nimmt, welcher nichts ahnend aus den Bahnhofstoren spaziert.

Ich verschwende nicht einen einzigen Gedanken an meinen baldigen Opferkumpanen, ihm ist nicht mehr zu helfen und noch immer befinde ich mich selbst in akuter Gefahr. Hektisch geht mein Blick nach Deckung in alle Richtungen. Jeder ist sich hier wohl selbst der Nächste. Das irrwitzige Tempo, in dem die Räder durch die Passanden pflügen, spottet allen Beschreibungen Amsterdams, die mir zugetragen wurden. Als soziales, rücksichtsvolles Miteinander von Fußgängern und Fahrradfahren, als verkehrstechnischer Vorreiter wurde mir die Situation mit den vielen Rädern vorgeschwindelt – Mumpitz! Diese sadistischen Lügenbarone werde ich Mores lehren, wenn ich lebend und in einem Stück aus diesem Albtraum entkomme.

Ich erspähe einige Touristen, die im Windschatten der Amsterdamer Schlächter fahren, elendes Verräterpack. Sie sind leicht an ihren knallroten oder quietschgelben Rädern auszumachen. Doch für Vergeltungsmaßnahmen ist jetzt nicht der rechte Augenblick, ich fühle mich in arger Unterzahl.
Allem ausweichend, was Räder hat, akrobatisiere ich mich im allgemeinen Chaos an die nächste Mauer heran. An mir hastet ein Rudel verängstigter asiatischer Touristen mit wehenden Röcken vorbei, zurück in die schützende Halle des Bahnhofgebäudes. Sie sind kaum zwanzig Meter in Richtung Stadtkern gekommen, was deutlich an ihren Gefallenen zu erkennen ist, die die Überlebenden aus Angst um Leib und Leben zurückgelassen haben.


© ahnungsvoll / Fahrraddschungel 2 / 2014
© ahnungsvoll / Rad aus Hengelo / 2014












Neben mir kreischt eine Fußgängerin panisch auf und versucht mitsamt ihrem Kinderwagen einer Meute heranrasender Berserker auszuweichen. Das Chrom der Zweiräder blitzt in der Sonne und an dem entsetzten Blick der Frau ist abzulesen, dass sie ernsthaft erwägt, ihren Nachwuchs im Stich zu lassen. So in etwa muss sich Rom beim Ansturm der Barbaren gefühlt haben. Was die Goten mit der ewigen Stadt anrichteten ist bekannt, für die arme Frau ahne Schlimmes. Doch mit Müh und Not rettet auch sie sich in die Deckung eines Begrenzungspollers. Um uns herum hetzt überall versprengtes Fußvolk, ihnen auf den Fersen strampeln die blutgeilen Pedaltreter und jauchzen vor Vergnügen. Und noch immer quillt Nachschub aus den stetig ankommenden Zügen, wie die unschuldigen Kälber zur Schlachtbank. Die Szenerie ist grotesk, der Mordgier scheint nichts standzuhalten. In einer Ecke des Platzes haben mehrere Kinder auf rosaroten Dreirädern einen beleibten Geschäftsmann in schweißgeträngtem Nadelstreifenanzug eingekesselt. Sein entsetzter Blick, als er die Ausweglosigkeit seiner Situation erkennt, brennt sich in mein Gedächtnis, dann verschwindet er unter den Speichen der Räder.

Mit dem Rücken an die Mauer gepresst bewege ich mich zentimeterweise in Richtung der nächsten Seitengasse. Sie scheint schmal genug, um den Velobestien zumindest ein Hindernis zu sein und führt offenbar vom Bahnhofsplatz in Richtung einer rettenden Fußgängerzone. Ich schicke eine Ladung Stoßgebete an alle Gottheiten und Entitäten dir mir so spontan in den Sinn kommen und spurte los.

Haken schlagend fliege ich über den Platz. Schierer Überlebenswille treibt mich voran, die Instinkte übernehmen die Führung. Ich weiche einem herannahenden Hollandrad aus und verpasse dem an mir vorbeisegelnden Lenker einen Schwinger, der in rücklings aus dem Sattel holt. Faust 1, Radler 0, Bäm! Von rechts hält eine Rotte Liegeräder auf mich zu, denen ich mit einer Körpertäuschung, die die gesamte Primera Division vom Glauben abfallen ließe, ausweiche. Hinter mir höre ich es scheppern, aber es bleibt keine Zeit sich umzudrehen. Mich trennen nur noch wenige Meter vom rettenden Durchgang. Zwei Kampfradler versuchen mich in die Zange zu nehmen, der eine fährt ein goldpoliertes Haribovehikel, der andere hat einen blutverschmierten Holzkorb als Ramme an seinem Lenker befestigt. Mit Mord im Blick strampeln sie sich die Seele aus den Leibern (reine Rhetorik, nicht das diese der Hölle entstiegenen Ungetüme von Fietsern noch so etwas wie eine Seele besitzen würden). Jetzt geht es um die Wurscht. Ich setze alles auf eine Karte und hechte mit einem Aufschrei dem Gässchen entgegen. Es knackt, dann wird es dunkel um mich herum – endlich.

© ahnungsvoll / Der rettende Durchgang / 2014

Einige Monate später wird in einer alpinen Klinik damit begonnen, mich langsam aus dem Koma zurück zu holen. Freunde, Verwandte und die engste Familie sind versammelt um mich wieder im Leben zu begrüßen. Die Niederländische Regierung hat eine Ladung Blumen und eine offizielle Entschuldigung geschickt, die mir von drei Vertretern der Amsterdamer Stadtverwaltung überreicht wird. Man lädt mich zu einem Besuch nach Holland ein, auf Kosten des Staates. Ich lehne ab.  


Während meiner schicksalhaften Schlacht habe ich mehrere Zehen, ein Ohrläppchen, die rechte Gesäßhälfte und die linke Hand gelassen. Es wäre noch schlimmer gekommen, wenn mich nicht einige beherzte Sicherheitskräfte der niederländischen Polizei von den kannibalischen Kampfradlern weggezerrt hätten.

Nach wochenlanger Reha kann ich wieder selbständig schlucken und einige Jahre später sogar alleine gehen. Auch in der Psychotherapie mache ich große Fortschritte, den Anblick von Rädern ertrage ich mittlerweile beinahe ohne Anfall. Nur wenn es auf offener Straße plötzlich klingelt, bekomme ich noch Zuckungen. Teu teu teu.


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Fahrräder in Amsterdam: circa 600.00
WG-plein 84
1054 RC Amsterdam