Von Rittern und Drachen

© Jessie Willcox / Fairy Tale / 1897








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Der Wandel vom blutgeträngten Bibelvers zur pixelbasierten Emanzipation
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Von Hubertus J. Schwarz    16. Mai 2014

Hamburg, Weimar – Märchen verzücken ganze Generationen kleiner Kinder, Märchen sind verstaubt und totgesagt, Märchen leben als Disney-Ver(un)filmungen weiter, Märchen erleben eine virtuelle Renaissance: Was sind Märchen nun eigentlich? Ein Einblick.

Was braucht ein Märchen, damit es zu einer guten Geschichte wird? „Es braucht eine Prinzessin!“, kräht die fünfjährige Lisa. „Und Drachen und starke Ritter!“ schießt Cornelius hinterher, der sogar schon sechs Finger alt ist. Fragt man die Buben und Mädchen des St. Pauli Kindergarten in Hamburg, was ein Märchen beinhalten muss, dann bekommt man ein erstaunlich rigides Schema serviert. Die Prinzessin schwebt dabei immer in latenter Lebensgefahr, meist verursacht von der bitterbösen Stiefmutter oder einem anderen schuppigen Ungetüm. Sie zu erretten ist dann ein edler Recke von tadellosem Ruf auserkoren, der diesbezüglich auch selten zaudert. 

Im Verlauf der Geschichte kämpft er sich stoisch durch unergründliche Botanik oder die Reihen der Feinde, erlebt die eine oder andere Begegnung der dritten Art, um schließlich das finale Ungeheuer niederzustrecken und seine holde Maid Heim führen zu können. Auf diese narrative Quintessenz lassen sich, zumindest aus Kinderaugen, die meisten Märchen herunterbrechen. Das war jedoch längst nicht immer so.

Zwar lugten schon lange vor den Lebzeiten der Gebrüder Grimm in gespanntem Staunen aufgerissene Kulleraugen aus den Bettchen, während Mütter, Ammen oder Gouvernanten ihre Geschichten zum Besten gaben. Damals jedoch glichen die Erzählungen kaum den naiv verklärten Disneyfilmen oder kunterbunten Märchenbüchern. Auch mit dem Grimmschen Sammelsurium hatten die Sagen und Lieder wenig gemein. Sie waren düsterer, blutrünstiger, voll von heidnischem Aberglauben und oft durchsetzt mit biblischen Mahngeboten, die schon die jüngsten auf den Pfad der Rechtschaffenheit führen sollten. So unterwanderte durchaus auch eine pädagogische Note die unterhaltenden Inhalte.

Diese widersprüchliche Mischung ergab sich daraus, dass noch bis weit in die Neuzeit hinein christliche Wertevorstellungen und die Bibel, als Maß aller Dinge, neben lokalen Überlieferungen, Sagen und Heldenliedern weitergegeben wurden. Deren Ursprünge stammten oftmals aus Zeiten, in denen die europäischen Stämme noch nicht christianisiert lebten und der Glaube an ein Pantheon der Götter, Naturgeister und Zaunhocker allgegenwärtig war. 

Aus Mangel an geschriebenem Wort reichte die einfache Bevölkerung dieses Kulturgut mündlich von einer Generation an die Nächste. Je nach Geschmack, gesellschaftlicher Lage oder regionaler Ausprägung bekamen diese Überlieferungen unterschiedliche Einfärbungen oder vermengten sich mit anderen Traditionen und christlichem Gedankengut. Märchenhafte, also im Unterschied zu Sagen oder Legenden frei erfundene Erzählungen sind beileibe kein rein europäisches oder gar urgermanisches Phänomen. Es gibt sie auf der ganzen Welt in mal mehr, mal weniger großem Artenreichtum. Das Wort Märchen selbst stammt wohl von dem mittelhochdeutschen maere und bedeutet so zunächst nichts anderes als Bericht oder Nachricht.

Heutzutage definieren sich Märchen als Geschichten nach dem mehr oder weniger strengem Muster, das ihnen, beginnend mit den Sammlungen der Grimms, aufoptruiert wurde. 

Mittlerweile scheint es sicher, dass die Geschwister kaum selbst durch die deutschen Lande zogen und Geschichten quasi von den Herdfeuern der Erzähler mitnahmen. Vielmehr liegt ihr Verdienst wohl in der einheitlichen Form, die sie dem Wust aus den ihnen zugetragenen Mären überstülpten. Nicht zuletzt gelten sie doch, gemeinsam mit den Philologen Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann als „Gründungsväter“ der Germanistik. Das Deutsche als einheitliche Sprache haben wir ihrer Grammatik, zumindest in Teilen, zu verdanken. 

Endgültig katalogisiert wurde das europäische Märchengut dann Anfang des 20. Jahrhunderts von dem finnischen Märchenforscher Anti Aarne in seinem Aarne-Thompson-Index. Mit dieser theoretischen Prägung drängt das kollektive Verständnis Märchen zuweilen in die verstaubte Ecke der altvorderen Literatur. 

Parallel zu der wissenschaftlichen Analyse widmen sich Filmschaffende seit den Anfängen der Leinwandtheater dem märchenhaften Stoff mit ihren Interpretationen. Vor allem der Medienkonzern Disney hat sich im vergangenen Jahrhundert mit seinen Versionen der grimmschen Märchen einen Namen gemacht. Die Trickfilme über Schneewittchen, Dornröschen, Aschenputtel und Co. begeisterten ganze Generationen kleiner Kinobesucher. Es ist dem Gründer Walt Disney und seinen Zeichnern zu verdanken, dass die Kunstform des Märchens das vergangene Jahrhundert überdauerte und sich über die Kinosäle in der ganzen Welt verbreitete.

Dabei tönt der Missmut an den Operetten nicht selten jedoch lauter als der Jubel um den leichten und stets blauäugig-, blümeranten Zugang. Die Disneystudios würden tiefgründige Handlungen der Märchen zugunsten einer gezeichneten Version des amerikanischen Traums oder einer immer gleichen Romanze opfern, so der Vorwurf. Den Niedergang der Zeichentrickfilme läutete jedoch vor allem die sich um die 2000er etablierende Animationstechnik ein, welche das Medium Märchen erst allmählich wieder entdeckt. Zuletzt mit Neuauflagen von Rapunzel und Hans Christian Andersens, die Schneekönigin.  

Und doch wird dem Verständnis der märchenhaften Erzählung damit nicht genüge getan. Der Trend zum Mitgestalten und Selbstbestimmen der Inhalte hat sich, einhergehend mit der digitalen Revolution, nicht nur im Internet manifestiert. Gerade ein Unterhaltungszweig, den man als beinahe konträr zu einem lauschigen Geschichtenabend sehen kann, tritt das Erbe der Disney-Verfilmungen an und belebt die angestaubte Märchenwelt so mit neuen Kreationen: das Segment der Videospiele.

Der Spieleentwickler Ubisoft nimmt hierbei einen besonderen Platz ein. Titel wie Beyond God & Evil oder die Rayman-Reihe schafften in den vergangenen Jahren durch ihren künstlerischen Anspruch eine neue Generation von Geschichten. Detaillierter als es geschriebene Märchen könnten, schaffen die Programmierer der Ubisoft-Studios ganze Welten voller märchenhafter und absonderlicher Details. 

Als jüngstes Werk steht seit Ende April 2014 das komplett gereimte Rollenspiel Child of Light als Download bereit. Hier kämpft kein Ritter in einem Kleid polierter Stahlplatten oder ein geleckter Prinz Charming um Ehre, Ruhm und Weltenrettung, sondern die Prinzessin selbst stürzt in das Abenteuer ihres Lebens, um das Königreich Lemuria vor der bösen Stiefmutter zu befreien. Durch seine weltweite Vermarktung wirkt diese neue, pixelbasierte Art ein Märchen zu erzählen ganz im Geiste der Brüder Grimm, deren Anliegen es ja vornehmlich war, das Volksgut einer breiten Maße zugänglich zu machen.  

Dazu bringt der Titel alles mit, was sich Nina und Cornelius wünschen, auch wenn die beiden Kindergartenbesucher für Videospiele vielleicht noch ein wenig zu jung sind. In solcher Reinform hat bisher kaum ein Videospiel den Kriterien einer märchenhaften Erzählung genügt, ob es ausreicht um eine tatsächliche Renaissance der Märchen einzuläuten, bleibt jedoch abzuwarten. 


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