Das Goa-Experiment

© Jan Steffen Peters / Beim Pillendreher / 2014
  

  
Was ist noch einmal gleich Goa? 
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Von Jan Steffen Peters    19. Juni 2014


Hamburg, Kampnagel – Exzess für jedermann: Ein Stück Subkultur hautnah in Form einer Performance-Vorstellung – dieses Experiment wagten die Künstlerkollektive HGich.T und Gods Entertainment auf Kampnagel. Freiwillige vor!

„Für einen Abend mit wachem und kreativem Geist empfehle ich ihnen diese gelben Pillen hier.“ Ich nehme den kleinen Beutel entgegen, bedanke mich und trete zur Seite. Die Schlange hinter mir ist beachtlich lang, nicht wenige wollen von sich von dem „Pillendreher“ etwas spannendes für den Abend verschreiben lassen.

Wir befinden uns in einem kleinen Zimmer, der ehemaligen Meisterbude auf Kampnagel, dem selbsternannten „Zentrum für schönere Künste“ und Performance-Theater in Hamburg. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts schaltete und waltete der Schichtleiter von hier aus die Produktion von Schiffs- und Hafenkränen, bis die Containnerrevolution im internationalen Warenverkehr den Bankrott der hier ansässigen Kampnagel AG einläutete. Der Umschwung brachte einen Produktionswechsel mit sich, anstatt schwerer Maschinen wird hier seit 1982 von der freien Theaterszene Hamburgs Kunst produziert.

Und nun also diese Pillen.
Angefüllt mit Guarana-Extrakten oder Kokablättern sind sie alles andere als bewusstseinserweiternd, es geht um den theatralischen Effekt. Das Pillenschmeißen auf Seiten der Zuschauer ist Teil der Performance, welche HGich.T und Gods Entertainment an drei Abenden im Rahmen des Live Art Festivals (Motto: Excess yourself!) präsentieren. Donnerstag, Freitag und Samstag. Pro Abend zehn Euro, oder man bucht den „Komplett-Trip“ für zwanzig. Ein Trip gestaltet sich wie folgt: Es sind verschiedene Stationen aufgebaut die es zu besichtigen gilt, eine davon ist die erwähnte Apotheke in der Meisterbude. Versehen mit dem mulmig-erwartungsvollen Gefühl in der Magengegend nachdem man die Empfehlung des Hauses geschluckt hat, macht man sich auf den Weg, Goa als soziale Praxis kennenzulernen.
 
Goa, was ist Goa noch einmal?
Grundsätzlich ein Bundesstaat an der Westküste Indiens. Der Name wurde Mitte der Achziger jedoch zum Synonym für die dort entstehende Feier- & Hippiekultur, ebenso wie für die neue Musikrichtung, dem elektronischen Psytrance, Acid oder eben Goa. Zu wichtigen Vertretern im Psytrance-Genre gehören die Israelis Infected Mushroom oder Vahel, im klassischen Goa-Bereich zählen Spirallianz, Astral Projektion oder Ethnica zu den Acts, die jedem Szenekundigen ein Begriff ist. 


Es ist kein Zufall, dass sich HGicht.T Anfang der Neunziger in der deutschen Goa-Hochphase formierten, findet sich doch in der Arbeit des Kollektivs eine Menge Goa und Rave wieder. Die Hamburger treiben es jedoch auf die Spitze, mischen die ohnehin ungestüme, subversive Goakultur mit einer beachtlichen Portion Trash und wild-verstörenden Dada-Texten. Ihre Youtube-Clips knackten mehrfach die Millionenmarke.

Die Wiener Theatergruppe Gods Entertainment
sind nicht minder auf Krawall gebürstet, in ihrem Schaffen allerdings konkreter, politischer. Mitte vergangenen Jahres boten sie auf dem Wochenmarkt auf dem Yppenplatz in Wien auf ihrem „Black Market“ Ideologien an, beispielsweise Fairtrade-Faschismus für 1€ oder Bio-Kapitalismus für 2,30€.  Beim Live-Art-Festival im letzten Jahr sorgten sie bereits mit ihrem „Human Zoo“ für Furore im Boulevard, als sie Randgruppen wie Obdachlose oder Asylbewerber personifiziert in Käfigen ausstellten.

Nun performen die beide Gruppen erstmals zusammen. Weltpremiere also. Verantwortlich hierfür ist Nadine Jessen, die zusammen mit Melanie Zimmermann das Festival kuratiert. Seit langem versucht sie die beiden Gruppen zusammenzubringen. Und nicht nur sie erwartete im Vorfeld mit großer Spannung, was dieses uneinschätzbare Grenzgänger-Konglomerat hervorbringen wird.

Nun ist es soweit, alles steht bereit zum ausprobieren, hereinspaziert.
HGich.T und die Gods erdachten eine Subkultur-Achterbahnfahrt in zwölf Stationen: Im DMT-Stimulanzreaktor legt man sich unter eine LED-Lampe und schließt die Augen. Reiseleiter Gregor schickt mittels der Lampe in unterschiedlichen Frequenzen und Intensitäten Licht auf die Netzhaut, was zu beeindruckenden visuellen Mustern in den Köpfen der Bewusstseinserweiterungswilligen führt. Im Orgonakkumulator kann man herausfinden, ob man an Wilhelm Reichs kosmische Orgonenergie glaubt oder sie gar spürt, fühlt man sich anschließend nicht gut empfiehlt sich das Aufsuchen der Bad Trip-Station. Auf einer Couch kann man es sich mit Absinth oder sonstigen hochprozentigen Getränken bequem machen und dem Erlebnten nach sinnieren oder einfach nur entspannen.

Angefüllt mit interessanten und schrägen Postulaten und vielleicht tatsächlich dem aktivierenden Impuls der pflanzlichen Stimulanzien ausgesetzt, ist es Zeit für die K6, die größte Halle auf Kampnagel: Alles ist dunkel, Schwarzlicht lässt die Fäden des riesigen Netzes, welches über den Köpfen der zahlreichen Gäste durch die gesamte Halle geknüpft ist, schimmern. Es gibt ein DJ-Pult, ebenfalls von weißen Bindfäden eingesponnen und mit neonfarbenen Mustern und Pilzen bemalt. Lauter, progressiver Goa wird von dort aus aufgelegt, ein paar Meter weiter mäandern projizierte vielfarbige Mandalas über eine riesige Sonne aus Holz und dann ist da dieser Mann. Pseudonym Anna-Maria Kaiser, Frontman von HGich.T und offenbar hoch dosiert: Mit glasigem Blick stakst er durch die Menge. Skandiert abgehackt, erzählt, brüllt dann wieder. Von HSV-Tattoos ist die Rede, von Frodo ebenso wie von seiner Ex-Freundin Sabrina die er im Publikum zu erkennen glaubt und von „Hartz for.“ Die in der Halle umherwandelnen Hgich.T-Mitglieder tragen Warnwesten, leuchtfarbenbekleckste Zauberermäntel oder auch mal nichts außer einer Windel. Anna-Maria Kaiser trägt dunkle Jeans, in der ein ordentliches Hemd steckt. Der fleischgewordene Arbeitgeber-Alptraum. Dieser animiert nun die Zuschauer zu wiederholen, was er sagt: „Ich scheiß in die Hose!“

„Das Problem in dem System, ja. Ist das System, ja. Das System ist das Problem, ja. Das System hat keine Eier, ja. Das System ist im System, ja.“

Es ist eine Kampfansage an alles, Ästhetik,
die alltäglichen Verpflichtungen, morgens mit der Bahn zur Arbeit fahren, allgemeingültige Werte und unsere Gesellschaft überhaupt. Eine aggressive Absage, Nihilismus in Reinform, Aussteigermusik. Das Publikum macht teils begeistert, teils entgeistert bei der Klangmeditaton mit, bei der sich alle auf den Boden legen und warten, bis Herr Kaiser zum Exzess läutet. „Goa, Goa, Goa, MPU, ja?“ (Medizinisch-Psychologische Untersuchung, wird fällig wenn Verdacht auf Drogenkonsum beim Autofahren besteht).

Das was Goa und Rave ausmacht legen die Gods und HGich.T in ihrer Performance gebündelt vor und bringen dem Zuschauer so ihre Welt nahe. Mal satirisch wie bei der Abgabe der Pseudo-Stimulanzien, mal todernst wie bei dem Auftritt von Anna-Maria – jeder kann einsteigen so weit er will und von der Veranstaltung für sich mitnehmen was er möchte. Durch die direkte Partizipation an dem Geschehen und an der Party werden die Mitglieder von HGich.T und Gods selbst zu Gästen welche ihr eigenes Schaffen genießen. Die Vorstellung bleibt jedoch der Versuch, etwas nicht abbildbares abzubilden. Freiheit, Exzess, Rave, all das setzt einen gemeinsamen Glauben der anwesenden Feiernden an das Stück Subkultur voraus, das gelebt wird. Hier wird Theater gespielt. Es bleibt bei dem Versuch.




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