Unschärfe nach Gerhard Richter

© Hamburger Kunsthalle / Kind2 / 2012


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Das Phänomen der Unschärfe, interpretiert durch Gerhard Richter
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Von Hubertus J. Schwarz   01. Mai 2012


Hamburg, Deutschland – Das Gefühl vor einem unscharfen Bild zu stehen und nicht zu wissen ob man nun einen leicht mutierten Wischmopp oder doch einen dezent debilen Collie betrachtet kann beklemmend sein. Das klingt nicht nur nach moderner Kunst, sondern soll es auch sein. Die Kunsthalle Hamburg widmet erstmals eine ganze Ausstellung dem Phänomen der  (Un)schärfe.

Prädikat: Nichts für Brillenträger. Der Collie auf rotem Perserteppich vor verschwommenen Grund, denn letztendlich war es ein Collie, ist nur eines von rund 110 Exponaten welche die Hamburger Kunsthalle im Hubertus-Wald Forum aufgefahren hat. Zu sehen gibt es die unterschiedlichsten Arten von unscharfen Darstellungen. 

Dabei wir das Spektrum der künstlerischen Darstellung voll ausgeschöpft. Auf einen vibrierenden und so den Betrachter nur unscharf wiedergebenden Spiegel folgt etwa eine Fata Morgana am Elbstrand in Acryl gegossen oder ein verwaschener Totenkopf auf ölerner Leinwand. Die Kreationen der Künstler sind dabei aber letztendlich weniger skurril, als man vermuten könnte. Und doch fühlt man sich wie im Ikea Kinderparadies in dem bis zur Unkenntlichkeit zensierte, schwedische Softpornos abgespielt werden. Warum weiß kein Mensch, aber sie sind da. 

So oder ähnlich fällt das Urteil über einige der Ausstellungsstücke aus, die derart unkenntlich gemacht sind, das im Versuch etwas Undifferenziertes zu schaffen, irgendwann ganz auf eine Definition verzichtet wird. Kunst, die gleichzeitig Nichts und alles sein kann. Sie spielt hier eine vielleicht etwas zu dominante Rolle.

Karin Kneffel (*1957) Ohne Titel, 2005 © VG Bild-Kunst 2011 
Zu verdanken hat man das ganze Spektakel Gerhard Richter (*1932). Der zeitgenössische Künstler hat es sich zur ganz eigenen Doktrin erkoren, Motive bewusst zu verschleiern. Und so Unschärfe als eigenen Stil zu etablieren. Ob im Akt, Stillleben, Landschaftsmalerei oder in Photographien, die Konsequenz des verschwommenen Werkes zieht sich durch das breite Spektrum seines Schaffens.

Richter selbst stellt neben seinen Gemälden auch seinen Kurzfilm Volker Bradke aus dem Jahre 1966 vor. Man sieht die Camera auf einem an den Seiten nach oben gekrümmtem Band fahren. Ein verschwommenes Tal vielleicht oder das Innere eines alten, dunkelgrünen Reifens. Öffnet man die unscheinbare Kiste in einer Ecke des Saales (Vorsicht: nach Angaben des beeindruckend arroganten Personales ist das Ergründen des Rätsels verboten) kommt man dem Geheimnis auf die Spur. Es ist ein schlichter Filzhut auf dessen Krempe die kleine Camera immer während im Kreis entlangfährt.

Das Auge sucht in seinen Werken ständig nach Fixpunkten, die es fokussieren und auf die es seinen Blick schärfen kann. Das zeichnet das räumliche Sehempfinden des Menschen aus. Die Unsicherheit, die der Betrachter verspürt, wenn er nun nicht mehr klar erkennen kann, was er vor sich hat, beinhaltet so aber auch Spielraum. Dies ist die Intention Richters, der die Impressionen seiner Bilder nicht vorschreiben, sondern lediglich anstoßen möchte. 

Die Konsequenz geht von einem einfach nur entschärftem Objekt bis zur völligen Entstellungen eines Motivs. Dem Betrachter bleibt selbst überlassen, was nun Kunst ist und was bloß der Wille dazu. Vielleicht der leere Goldrahmen auf kalkweißer Wand oder ist es die verwackelte Nahaufnahme eines Anonymen die Kunst oder kunstfrei ist? Bedingungslos begeistert werden wohl die wenigstens sein, dazu sind die Ausstellungsstücke zu verschieden um wirklich jeden anzusprechen. Abgesehen vielleicht von Brille.Fielmann Mitarbeitern. Sie werden in orgiastische Freudentaumel verfallen, wenn sie den Zuwachs an neuen Kunden spüren, die nach der Ausstellung panisch ihre Sehstärke testen lassen.

Schädel mit Kerze, 1983 © Gerhard Richter 2011
 23 Künstler haben sich der Thematik angenommen, manche mit mehr, andere mit weniger exzessiver Hingabe. Das entstandene, verschwommene Gewölle wirkt beliebig, der Gedanke dahinter jedoch hat einige interessante Aspekte, die für ihn sprechen. Das ist es, was Gerhard Richter mit seiner Ästhetik der Unschärfe gemeint haben könnte. Beliebige Kunst ist keine Kunst mehr. Kunst aber, die nach Belieben gedeutet werden kann, bietet dagegen ein ganz individuelles Erlebnis, das schärfer und intensiver ist, als es der Titel dieser Ausstellung erahnen lässt.





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Das Bildmaterial wurde von der Pressestelle der Hamburger Kunsthalle bereitgestellt.