Das Ich in Uns

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Was macht unsere Identität aus – Die Ein Blick hinter den Spiegel
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Von Hubertus J. Schwarz   21. November 2013

Zürich, Schweiz – Identität ist einer dieser wundervoll schweren Begriffe, die so viel und gleichzeitig so wenig aussagen. Ein Versuch, nicht nur in den Spiegel zu blicken. Sondern auch einmal dahinter. 

Ein Kosmonaut schwebt in der sterilen Stille seiner Raumkapsel und sieht aus einem der Fenster hinab auf den Flecken, den er einmal Heimat nannte. Ohne Halt treibt es ihn, während er sich erinnert. An seine Jugend, seine Leidenschaft, der er sich hingegeben hat. Und an den Drang nach einem Ziel, der ihn schließlich hier hinauf in die Leere des Alls gebracht hat. Dieser Kosmonaut ist das Ich.

Irgendwo in Niemandsland Rinnstein, zwischen vorbei strömendem Regenwasser und faulendem Laub, da liegt ein Teddy. Steif noch vom Frost der Nacht. Zerrupft von vielen Händen. Und leer. Teddy ist leer und hohl. Man hat ihm seine wollene Füllung herausgerissen um Platz zu schaffen für ein Päckchen illegalen, weißen Vergessens. Ohne Augen starrt Teddy in ein nimmermüdes Dunkel. Keiner bemerkt das braungraue Elend zwischen all dem anderen Abschaum. Und so macht sich auch niemand Gedanken, was Teddy hierher gebracht hat. Was ihn zu dem werden ließ, der er heute ist. Auch dieser Teddy ist ein Ich.

Beide Blickwinkel haben einen sehr differenzierten Standpunkt von dem aus sie ihre Identitäten betrachten. Dabei aber einen völlig Entgegengesetzten. Der des Kosmonauten richtet sich nach innen und fragt danach, wie er selber auf seine Identität Einfluss nimmt. Der Blick des Teddys geht dagegen nach außen und stellt sich dem, was andere aus ihm gemacht haben. Keiner dieser Blickwinkel ist der Richtige. Genauso wie keiner der Falsche ist.

Und das ist es auch, was oft bei der Frage nach Identität herauskommt. Es gibt keine goldene Mitte, keinen besten Weg. Und in einer Zeit, wo Individualität und Selbstverwirklichung zum guten Ton gehören, lässt sich so etwas wie eine ideale Schnittstelle ohnehin kaum ausmachen. Oder doch? Und was ist eine Identität eigentlich?

Identität ist, wenn ein Ichbewusstsein versucht, sich in der Welt, in der es sich gefunden hat, eine Rolle zu geben. Dieser Platz rührt von ganz unterschiedlichen Gegebenheiten her. Alles trägt zu einer Identität bei. Man selber, die Familie, das soziale Umfeld, Ort und Zeit, in der man lebt. Identität ist also nicht nur, wie ich mich sehe oder gern sehen würde, sondern auch wie andere mich sehen und sehen möchten.

Der Teddy im Regen ist das Bild des Menschen, der versucht sich dem gewahr zu werden, was andere aus ihm gemacht haben. Der Teddy im Regen versinnbildlicht, dass wir machtlos dem gegenüberstehen wie andere uns sehen. Oder, wenn schon nicht ganz machtlos, so doch zumindest beschränkt. Denn was wir registrieren können, ist allein das, was andere Identitäten an Reaktionen erkennen lassen. Und unsere Reaktion darauf ist nur wieder der Anlass für eine nächste Handlung unseres Gegenübers. Identität ist also auch ein stetes Wechselspiel aus Aktion und Reaktion. Kommunikation. Ein ewiges Abwägen, inwieweit wir das Gesendete aufnehmen oder es ignorieren. In einem Wort: zwischenmenschlich.



Der einsame Kosmonaut sieht nicht auf die anderen. Ihn kümmert keine Kommunikation, kein zwischenmenschliches Verhalten. Er blickt nur auf sein Selbst und den Weg, auf dem er sich bis ins Jetzt gebracht hat. Er verdeutlicht ein Bewusstsein, das sich selber zu erkennen versucht.

Diesen Prozess durchleben wir ständig. Wir schauen in den Spiegel und versuchen das, was uns dort entgegenblickt mit dem zu vereinbaren, von dem wir gern hätten, dass es uns entgegenblickt. Wir reflektieren, manipulieren und korrigieren uns. Bewusst, indem wir Eyeliner und Rasierer zücken. Unbewusst, indem wir aus unserem Umfeld Mechanismen annehmen und ausführen, ohne das aktiv zu steuern. Frei nach dem Motto: Was zur Hölle suche ich eigentlich vor dem Spiegel? Identität ist also auch reflektierend.

Egal, aus welchem Blickwinkel wir Identität betrachten. Identität bleibt einzigartig. Denn jeder Mensch besitzt Eigentümlichkeiten seines Wesens, die ihn als Individuum kennzeichnen. Sie entsteht aus zwei Prozessen: Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung. Aus dem Willen sich abzugrenzen und jenem dazuzugehören. Also aus einem Ich-Gefühl und einem Wir-Gefühl. Es ist für die Erfahrung „Identität“ wichtig, dass es eine Gruppe gibt, an der wir uns messen können. Die sowohl als Anker für Gemeinsamkeiten wirkt, uns aber auch die Unterschiede zu anderen aufzeigt. Diese Gruppe kann von Familie über Freunde bis hin zu einem Volk, einer ganzen Ethnie, alles Mögliche sein. Auch Staat und Gesllschaft.

Die moderne Gesellschaft hat einen großen Einfluss auf unsere Identität. Denn sie repräsentiert in weiten Teilen unser Umfeld. Und so nimmt sie auch Anteil an unserer Identität. Das drückt sich in einer sozialen Stellung, in Namen, Titeln und Rängen aus. Aber auch in Werten und moralischen Richtlinien, an die wir uns anpassen. Teilen wir einige dieser Normen nicht, gelten wir schnell als störende Fremdkörper.

Auch der Staat baut auf solche Raster: Haben wir keinen Pass, keine Geburtsurkunde und keine Versicherungsnummer, keinen eingetragenen Wohnort oder dokumentierte Bindung, dann sind wir für den Staat praktisch nicht existent. Identität als Werkzeug zur Identifikation eines Individuums. Dafür braucht es diese Existenzzeugnisse. Nur so kann man in einem bürokratischen System als Teil akzeptiert werden.

Da heißt es: entweder ganz oder gar nicht. Wie die Biene in ihrem Stamm nur dann toleriert wird, wenn sie sich einfügt. Tut sie das nicht, wird sie entweder ausgestoßen oder getötet. Wie auch wir bestraft werden, sofern wir uns nicht an das System anpassen und den Staat mittragen. Beispielsweise durch Besachwalterung oder dadurch, dass wir die Vorzüge aus einem staatlich organisierten System nicht mehr beanspruchen können.

Ein sozialer Grundkonflikt. Geben wir bis zu einem gewissen Grad unsere Freiheit auf, bekommen wir dafür den Schutz und die Privilegien einer Gemeinschaft. Wir bleiben Individuen, sind aber dennoch Teil des großen Ganzen – Staat.

Beharren wir auf unserer Autonomie, sind wir weniger abhängig, können aber das soziale Sicherheitsnetz nicht beanspruchen. Freiheit auf Kosten der Sicherheit. Zwischen diesen Extremen pendeln wir unser Leben lang. Manchmal schlagen wir mehr in Richtung Freiheit, dann wieder in Richtung Gemeinschaft aus.

Unser (Un)Bewusstsein formt so eine Identität, die ständig im Fluss ist. Wir passen uns an. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Wir entpassen einander. Und doch bleibt die Frage: Gibt es eine ideale Schnittstelle?

Angenommen, das was andere in einem sehen und die Art auf die man sich selber als gut wahrnimmt, stimmen überein. Wenn man sich also nicht verstellen muss, um als das eigene Idealbild, wie auch das des Gegenübers zu gelten. Dann hat man die goldene Mitte erreicht. Die völlige Ausgewogenheit zwischen sich und der Umwelt.

Manchmal erreichen wir diesen Zustand für einen Moment. Dann, wenn sich alles fügt: Man sich in seiner Umgebung genauso zuhause fühlt, wie auch alles um einen herum erkennen lässt, dass man nicht nur akzeptiert, sondern auch verstanden und geachtet wird. Du ok, ich ok, wir ok.

Aber da genauso wir, wie alles andere in Veränderung begriffen ist, kann dieser Moment nicht von Dauer sein. Sondern muss und kann immer wieder aufs Neue entdeckt werden.

Letztendlich bleibt Identität also ein Begriff, der nicht zu greifen ist. Ein bisschen Kosmonaut, ein wenig alter Teddy, alles mit einer Prise Staat und Kommunikation. Ein Hybrid aus so vielen Deutungen und Versionen seiner selbst, dass er nicht umfassend verstanden werden kann. Und vielleicht ist genau das auch der Sinn dabei. Identität will im Kern von jedem ganz individuell verstanden werden. Identität ist Identität.


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Erschienen im joe04 / Herbstausgabe 2011
Bilder von Wolfgang Schnuderl