Unter die Haut

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Tote Menschen und lebende Körper auf dem Seziertisch – Ein Erfahrungsbericht
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Von Manuela Glinz und Hubertus J. Schwarz   25. November 2013


Graz, Steiermark – Hirnschlag. Das Leben der Frau ist zu Ende, das ihres Körpers nicht. Was passiert mit einem Menschen, nachdem er für tot erklärt worden ist und als Spender dienen soll? Von pochenden Herzen, weißen Kitteln und weinenden Ärzten – Ein Erfahrungsbericht. 

 Als mir der Assistenzarzt das Notfall­ Handy in die Hand drückte, dachte ich mir nicht viel. Gut, dann ist er halt für zwei Stunden weg. Was soll in der Zeit schon passieren?

Zwanzig Minuten später rief mich eine der Arzthelferinnen aus dem Krankenhaus an. Ich solle kommen, so­ fort. Es stehe ein Explantationseingriff an, also die Operation an einem eigentlich toten Körper, mit dem Ziel noch intakte Organe für andere Patienten zu retten. Solche Operationen kommen seltener vor, als es die Unfallstatistiken oder Todesanzeigen vermuten lassen, denn vor allem Autounfälle hinter­ lassen meist nur zerstörte Körper, die nicht als Spender infrage kommen. Dass ich nun in meiner ersten Woche als Hospitant im Krankenhaus bei einem solchen Eingriff assistieren kann, ist Zufall. Andere Ärzte erleben so etwas über Jahre hinweg nicht. 

Eile ist geboten. Als ich beim Krankenhaus ankomme, wird der Körper einer Frau in den Operations­saal der Chirurgie geliefert. Ihr Gehirn ist durch eine Blutung völlig zerstört. Nur Minuten zuvor hatte ein Notarzt die Schäden für irreversibel erklärt. Warum sie gerade an diesem Tag ein Hirnschlag traf, was die letzten Gedanken der Frau waren, was sie heute noch vorhatte – ich weiß es nicht. 

Jetzt zählt nur die Zeit. Fälle, wie der dieser Frau, sind für die Krankenhäuser ein Segen, denn die Körper sind nach einer Hirnblutung noch intakt und können als Spender dienen. Die Organe der Frau sollen nun das Leben anderer Menschen retten. Das gelingt aber nur, solange das Herz­- und Kreislaufsystem weiterarbeitet. Empfängt der Körper keine Informationen mehr aus dem Gehirn, schaltet er früher oder später auch ab. Deshalb ist Eile angesagt. 

Nackte Tatsachen. Der Körper der Frau wird ausgezogen und gewaschen. Sie ist 48 Jahre alt, untersetzt. Nicht hässlich, aber auch nicht wirklich schön. Unauffällig würde wohl am besten passen; auf der Straße wäre sie mir nicht aufgefallen. Aber jetzt stehe ich direkt an ihrer Seite. Spüre die Wärme, die der Körper noch immer ausstrahlt. Der Operationstisch unterscheidet sich nicht von jenem, auf dem Patienten aus dem Krankenhaus behandelt werden. 

Mit abgespreizten Armen wird der Körper auf den Rücken gedreht. So kann das Ärzteteam an die Organe gelangen, die wir explantieren wollen. Ihr Kopf ist abgedeckt, niemand soll und will das Gesicht der Frau sehen, die wir aufschneiden werden. Auf der einen Seite versuchen wir mit so wenig Emotion wie möglich zu arbeiten, gleichzeitig aber ist es wichtig, dass wir nicht vergessen, einen beinahe noch lebenden Menschen vor uns zu haben. Ich versuche nicht daran zu denken, dass die Frau noch vor nicht einmal zwei Stunden gelebt, gedacht, empfunden hat. Völlig nackt liegt sie vor mir auf dem Tisch. Ihre Scham seit Wochen nicht rasiert. Ob Sie einen Freund hatte oder einen Mann? 

Unter Drogen. Obwohl das Gehirn der Frau nicht mehr funktioniert, wird Sie mit Opiaten behandelt. Denn auch ohne die Steuerzentrale im Kopf können noch immer Reflexe ausgelöst werden und ein zuckender Körper, während der Arzt das Skalpell ansetzt, ist hinderlich. Auch deshalb ist ein Anästhesist über den gesamten Zeitraum der Operation an der Seite der Frau. Er hält das Herz­kreislauf­system am Laufen, damit der Körper weiterlebt und die Organe nicht absterben. Auch überwacht er die Körper­funktionen und den Blutdruck. Sobald dieser fällt, gibt er Alarm. 

Selbst im Tod muss die Patientin behandelt werden, als wäre sie am Leben. Verletzt einer der Ärzte den Körper versehentlich, muss erst die Blutung gestillt werden, bevor die Ärzte weiter arbeiten dürfen. Dass die Patientin schon tot ist, spielt keine Rolle. Das ist nicht nur ein Ge­Gebot des Ärzte­-Kodex, sondern gesetzlich vorgeschrieben. Die Ehre des Menschen ist unantastbar und deshalb muss auch ein Körper, dem die Organe entnommen werden, noch mit so viel Respekt wie nur möglich behandelt werden. 

Der erste Schnitt. Als der leitende Arzt das Skalpell ansetzt, wird es nicht plötzlich besonders still. Ich halte auch nicht andächtig den Atem an oder bin aufgeregt. Der „Grey‘s­Anatomy­-Emotion­-shitstorm“ bleibt aus. Dazu passiert alles zu schnell, routiniert und ohne Pathos. Die einzelnen Elemente des Eingriffs sind den geübten Ärzten in Fleisch und Blut übergegangen. Der erste Schnitt geht tief. Vom Brustbein abwärts wird der Torso aufgetrennt. Man nennt das eine Sternotomie. Dann arbeitet sich der leitende Arzt weiter vor. Ich reiche ihm die Instrumente, nach denen er verlangt, halte dort Haut und Fleisch auseinander oder klemme Arterien ab, um das Blut im Körper zu halten. Es ist wie ein umgekehrtes Puzzle. 

Der First-look. Schicht für Schicht werden Mus­kelflächen freigeschnitten. Dann die Bauchlappen nach außen gelegt. Man kann die Leber erkennen. Jetzt kommt es zu einem medizinischen Showdown, dem sogenannten First­look. Der erste Blick auf ei­nes der Körperteile, das explantiert werden soll. Das Urteil des Arztes ist ernüchternd, die Hülle der Leber bedeckt mit Tumoransätzen. Sie ist nicht als Spender­leber geeignet. Dabei waren Leberwerte und Ultra­schalluntersuchung unauffällig und vielversprechend. Aber die Voruntersuchungen sind nicht ausschlaggebend, oft kann man nur mit bloßem Auge erkennen, ob das Organ für einen neuen Körper geeignet ist. 

Das sieht nun auch die Ärztin des Patienten, für den die Leber gedacht war. Sie war extra gekommen, um zu assistieren und das Organ dann persönlich mitneh­men zu können. Die Frustration ist ihr ins Gesicht ge­schrieben. Tränen der Wut und Enttäuschung laufen der Ärztin über die Wangen, als sie aus dem OP stürmt. Ihr Patient wartet nun schon über zwei Jahre auf eine neue Leber und sie mit ihm. Es ist nicht unge­wöhnlich, dass früher oder später die Objektivität auf der Strecke bleibt, wenn man über Jahre hinweg einen kranken Menschen betreut. Gefühlsausbrüche dieser Art sind dennoch unprofessionell. Aber gut, damit hab ich dann auch meinen Grey‘s­Anatomy-­Moment bekommen. 

Geplatzte Adern. Während ich ihr noch nach­ schaue, gibt der Anästhesist Alarm. Der Blutdruck sinkt. Jetzt dringt auch Blut aus dem offenen Torso. Wir unterbrechen und suchen nach der Ursache des Druckabfalls. Irgendwann haben wir eine kleine ab­getrennte Ader entdeckt. Erst als sie abgebunden und die Blutung gestillt ist, können wir weiter machen. Allerdings nicht lange, trotz des Zwischenfalls ist das Ärzteteam, das sich das Herz der Frau holen sollte, verspätet. Wir kühlen den Körper, um die Organe nicht weiter zu strapazieren, während wir warten. 

Ein Herz geht auf die Reise. Endlich treffen die Innsbrucker Ärzte ein. Nun geht alles ganz schnell. Wir reanimieren den Körper. Das Herz wird freigelegt. Aorta und Arterien abgetrennt. Das Herz vorsichtig und von mehreren Händen aus dem Körper genommen. Aber dann ist niemand da, der es entgegen nehmen könnte. Nur ich. Jetzt kommt er, der Moment in dem ich nun doch andächtig im OP stehe, en Atem anhalte und mir das eigene Herz in die Hose rutscht, während ich in meinen Händen das andere pochende Leben halte. Trotz der Kühlung ist das Herz noch warm. 

Ein starker Muskel mit einer gesunden und fehlerfreien Struktur. Das Herz einer Frau, die heute Morgen noch aufgestanden ist und ihren Tag geplant hat. Jetzt liegt ihre Hülle hier vor mir und ihr Herz pocht zwischen meinen Fingern – ein surrealer Augenblick. Erleichterung macht sich breit, als ich es in die vorbereitete Kühlbox lege und der Verschluss zuschnappt. Geschafft. Die Innsbrucker machen sich so rasch wie sie gekom­men waren wieder auf den Weg. Ein Flug ist gechartert. Das Herz reist mit, im Handgepäck. Keiner der Ärzte möchte die kostbare Fracht aus den Augen lassen. Was die anderen Passagiere wohl denken würden, wenn sie wüssten, was in dem Kühlbehälter ist? 

Es ist aus. Nach acht Stunden neigt sich die Opera­tion ihrem Ende zu. Die Eingeweide, die wir aus dem Körper genommen hatten, um an die beiden Nieren zu gelangen, müssen wieder in den offenen Torso. Die Flüssigkeiten, die beim Explantieren der Nieren ausgeronnen sind, werden abgesaugt. Zum Schluss darf ich den Körper zunähen. Es ist anstrengend aber befriedigend. Wenn man stundenlang etwas zer­stört, tut es gut, ein sauberes Umfeld zu hinterlas­sen. Als der Körper der Frau aus dem Saal gerollt wird, rutscht das Tuch von ihrem Kopf. Für einen Sekundenbruchteil kann ich ihr Gesicht erkennen. Ich bin mir fast sicher, dass es entspannt war.


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Illustration: Tanja Gahr