Hamburg, Deutschland – Ausbruch des Ersten Weltkrieges jährt sich 2014 zum 100ten Mal. Das Entwicklerstudio Ubisoft aus Montpellier hat mit ‚Valiant Hearts’ nun ein Videospiel veröffentlicht, das den Krieg auf andere Weise erleben lässt. Dr. Sabine Kienitz, Professorin für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg, über ein Videospiel, das versucht Geschichte zu schreiben.
Das Videospiel erzählt die fiktive Geschichte von fünf sich kreuzenden Schicksalen in den Grauen des Ersten Weltkrieges. Die Protagonisten dieser spielbaren Graphic-Novel beruhen auf den Briefen die Soldaten in Schützengräben schrieben.
Frau Dr. Kienitz, woran denken Sie beim Thema Erster Weltkrieg als Erstes?
Dr. Sabine Kienitz: "Da kommt mir Ernst Friedrichs Darstellung des Krieges als schrecklicher Horror in seinem Buch ‚Krieg dem Kriege‘ in den Sinn."
Sein Antikriegs-Buch zeigt die Opfer des Krieges,
Verstümmelung, amputierte Gliedmaßen. Valiant Hearts geht einen anderen
Weg zum Verständnis der Ereignisse.
"Ich finde es spannend, wie die Entwickler selbst darüber sprechen,
einen emotionalen Ansatz zu wählen. Mit den verschiedenen Charakteren,
die man vom Beginn des Kriegs auf ihrem Leidensweg begleitet."
Die einleitende Sequenz des Videospiels erklärt in knapp 30 Sekunden, wie der Erste Weltkrieg zustande kam.
"Ok, wir sehen also eine Landkarte Europas, eine Illustration des
Mordes an Erzherzog Franz Ferdinand und die Mobilmachung Frankreichs."
© Ubisoft / Valiant Hearts I / 2014 |
© Ubisoft / Valiant Hearts II / 2014 |
"Was hier erzählt wird, ist ja nicht falsch. Deutschland hat den Krieg erklärt. Nur nicht als Erster und schon gar nicht als Einziger. Die Verfälschung entsteht dadurch, dass an dieser Stelle Informationen selektiert werden."
Etwa die Rolle Österreich-Ungarns, das mit seiner vorschnellen Kriegserklärung das europäische Bündnissystem zum Kollaps gebracht hat.
"Wenn ich darauf abziele, die Protagonisten in eine Konfliktsituation
zu katapultieren, der Weltkrieg also nur die Rahmenhandlung ist, dann
muss ich mehr dazu auch nicht wissen. Ob ich als jugendlicher Spieler
dennoch erkennen kann, was die Hintergründe des Krieges sind, das würde
ich so doch stark bezweifeln (lacht)."
Die Verkürzung ist natürlich an dieser Stelle nicht akzeptabel. Weil so getan wird, als ob das Spiel einen Kontext erklärt, letztendlich aber sehr selektiv mit den Daten umgeht. Ich denke, es geht um eine gewisse Balance. Man sollte das Spiel auch nicht überfrachten mit der Idee, hier alles über den Ersten Weltkrieg erzählen zu wollen.
Wie sonst sollte solch ein populäres Medium den Krieg einem jungen Publikum nahe bringen?
"Es ist grundsätzlich ein Problem, inwieweit es hier um historische
Genauigkeit geht oder inwieweit man sich mit den Protagonisten
identifizieren soll. Interessant ist dabei die gesamte Ästhetik des
Spiels in seinem Comic-Stil. Die Ansprache funktioniert über die
reduzierten, überzeichneten Charaktere einer Graphic-Novel und nicht
durch die pseudoreale Darstellung eines Ego-Shooters. Die Schlachtfelder
kommen ja auch praktisch ohne Blut aus."
© Ubisoft / Valiant Hearts III / 2014 |
"Ah, das sind die bösen Deutschen (lacht). Klar, man versucht die
Figuren so plakativ wie möglich zu gestalten. Ich halte diese
Reduzierung auf nationale Stereotypen für gefährlich."
Vor allem, wenn eine ganze Nation als Feind dargestellt wird und nicht nur einzelne Charaktere.
"Nun, es gibt schon einen besonderen Bösewicht, aber auch der ist
Deutscher. Wenn man mit der Inszenierung solcher Feindbilder arbeitet,
dann kommt man auch nicht aus dieser Debatte um die Schuldzuschreibungen
hinaus."
Eine Frage, die gerade vor dem Hintergrund der 100ten Jährung des Kriegsausbruchs neu diskutiert wird.
"Ich finde es sehr spannend zu beobachten, welcher Diskurs da heute
geführt wird und wie diese Frage nach Schuld und Vermeidbarkeit in der
Geschichte wieder aufkommt."
Aufsehen erregte der Historiker Christopher Clarks mit seinem 2013 in Deutschland erschienen Sachbuch ‚Die Schlafwandler‘ und der Deutung, dass der Krieg zwar von Deutschen verschuldet wurde, aber eben nicht ausschließlich von diesen.
"Gerade dieses Buch und die Kriegsschuldfrage wird dazu genutzt,
einen Entschuldungs-Diskurs neu zu führen. All‘ das mit dem Tenor: Wir
Deutschen waren ja gottseidank nicht ganz so schuldig. Als ob das die
Geschehnisse und Folgen des Krieges in irgendeiner Weise relativieren
könnte."
Sie halten demnach nichts von einer Neubewertung?
"Ich finde es sehr interessant zu beobachten, wie diese Debatte
wieder aufgefrischt wird. Wenn man sich jedoch die Folgen auf allen
Seiten ansieht, nivelliert sich die Frage nach Sieger- und
Verlierernation sehr schnell. Gerade wenn man sich die Situation der
Kriegsversehrten in den kriegführenden Ländern ansieht."
Das Leben der Soldaten und Menschen, die im Krieg betroffen waren, ist auch ein zentrales Thema von Valiant Hearts.
"Diese Herangehensweise finde ich wiederum sehr positiv. Es wird
versucht auf dieser Ebene so etwas wie Realismus hereinzubringen – eine
dokumentarische Tiefe."
Besonders der dokumentarische Aspekt entsteht durch die
vielen Bonusgegenstände, die man während des Spielens aufsammeln kann,
und einem eigenen Menü mit historischen Fotos und Fakten.
© Ubisoft / Valiant Hearts / Facts / 2014 |
"Ja, hier hat man sich offenbar sehr stark mit Quellen
auseinandergesetzt. Die Entwickler arbeiteten im Vorfeld eng mit
verschiedenen Archiven und Stiftungen zur Geschichte des Ersten
Weltkrieges zusammen. Wobei man natürlich auch aufpassen muss, dass
Fotografien nie hundertprozentige Abbilder sind, sondern nur
Konstruktionen."
Das Entwicklerstudio legt großen Wert darauf, dass ihre Geschichte von Briefen aus dem Ersten Weltkrieg inspiriert ist.
"Es gibt eine intensive Debatte darüber, welcher Quellengattung man
diese abermillionen Briefe zuordnet. Wer schreibt darin eigentlich wem?
Ich weiß nicht, ob diese Briefe als Vorlage nicht etwas naiv verwendet
werden. Die Frage der Vermittlung, die in diesem kommunikativen Medium
der Feldpostbriefe so essenziell ist, muss natürlich immer vorsichtig
interpretiert werden. Gerade bei einem Videospiel, das davon spricht, in
starkem Maße auf solchen Dokumenten zu basieren."
© Ubisoft / Valiant Hearts IV / 2014 |
© Ubisoft / Valiant Hearts VI / 2014 |
Die Frage ist, wer den Soldaten über die Schulter sah, während sie über das Leben an der Front schrieben?
"Genau, die Zensur ist eine enorme gewesen. In diesem Zusammenhang
auch die Selbstzensur. Erzähle ich meiner Familie, wie fürchterlich es
mir geht, oder beruhige ich nicht eher, um die Daheimgebliebenen nicht
in Angst und Schrecken zu versetzen."
Die Bilder des Spiels sprechen eine klare Sprache über das Leben in den Schützengräben.
"Stichwort No-Mans-Land. Ich finde, diese Zerstörung und Tristheit
der zerbombten Schlachtfelder übersetzen die Entwickler hier sehr gut.
Das liegt natürlich an den zurückgenommenen Farben des Comic-Stils.
Dieses Desaströse kommt der Realität wohl sehr nahe. Es erinnert mich an
Joe Sacco, der die Palästina-Comics gezeichnet hat. Als ob die Welt,
die hier wie dort dargestellt wird, kein Recht auf Farbe hat. Ein
Videospiel so zu präsentieren, finde ich sehr mutig."
Und inmitten dieser zerrütteten Landschaft der Hund als
Begleiter und Bindeglied zwischen den einzelnen Akteuren, der die
Geschichte von Valiant Hearts immer weiter trägt.
"Hunde, Pferde, Tauben – diese Frage von Trost und Pflege durch Tiere
im Krieg ist ein unterschätzter Aspekt. Insofern entspricht es
vielleicht nicht nur einer Sehgewohnheit, dass dieser Hund hier eine so
zentrale Rolle einnimmt, man Tiere als etwas Niedliches wahrnimmt und so
einen leichten Zugang findet, sondern einer Realität im Krieg."
Es ist also nicht nur der Lassie-Charakter, der den Hund als Spielfigur rechtfertigt, sondern historisch verbürgt.
"Genau. Er verkörpert sozusagen die neutrale Position, die den Krieg
frei von Ideologien erlebt und allein durch Beziehungen zu den Menschen
definiert ist."
Was bedeutet das für die Wirkung des Spiels?
"Hier erlebt der Spieler etwas, das Museen nicht leisten können.
Indem er die Charaktere lenkt, ist er verantwortlich für ihr Überleben.
Valiant Hearts dreht sich um das Leben und nicht den Tod. Dass man in
diesem Spiel nicht tötet, ist eine außergewöhnliche Art diesen Krieg,
der so lange vernachlässigt worden ist, zu erzählen.
Es wäre so gesehen fast schön, deutsche Kinder würden dieses Spiel
spielen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was der Erste Weltkrieg
gewesen ist. Letztendlich kann ein solches Medium aber immer nur der
Auftakt sein, der dazu anregt, sich mit dem Thema weiter zu
beschäftigen."
© Ubisoft / Valiant Hearts V / 2014 |
- Valiant Hearts funktioniert als Mischung aus Adventure und Geschicklichkeitsspiel in Comic-Grafik. Das Videospiel wurde von Ubisoft Montpellier entwickelt. Es ist für circa 15 Euro für PC, Playstation 3 und 4, Xbox 360 und One, erhältlich. USK: ab 12 Jahren.
- Prof. Dr. Sabine Kienitz studierte Empirische Kulturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 2009 ist sie Professorin für Volkskunde und Kulturanthropologie an der Universität Hamburg. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem auf Krieg und Gewalt als zentrale Erfahrungen der Moderne.
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