Der große Unbekannte

© wikicommons / Illustration aus der ersten Veröffentlichung um 1515 / Sebastian Wallroth / 2015




 



 Wer war Deutschlands großer Nationalnarr 
Till Eulenspiegel wirklich?
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Von Hubertus J. Schwarz   12. Februar 2015 

Mölln, Deutschland – Die Geschichten über Till Eulenspiegel sind berühmt. Doch über seine Herkunft weiß man bis heute wenig. Wer war Till Eulenspiegel wirklich?  

Anno 1339. Gerichtsbezirk der Altstadt Braunschweig. Der Rat befindet Tile van Cletlinge und seine sechs Kumpane für schuldig und verhängt die Verfestung über die Unglücklichen, wahrscheinlich wegen Straßenraubes. In der mittelalterlichen Rechtsprechung bedeutet dieses Urteil, eine wesentliche Einschränkung der bürgerlichen Rechte.  

Die Verurteilten kommen aus dem verarmten, niederen Adel des Braunschweiger Umlands. Oft mittellos und ohne ertragreichen Boden oder Pfründe, geht es dem Landadel im 14. Jahrhundert nicht viel besser als den Bauern. Häufig lassen sie sich von herrschenden Landesfürsten anstellen. Im Grunde sind sie dann oft nichts anderes als Söldner, die sich mit ihrem Schwertarm an den Meistbietenden verdingen.  

Alle sieben geben an, in Diensten von Bernhard I., Graf von Regenstein, gestanden zu haben. Dieser führt seit Jahren einen erbitterten Kleinkrieg gegen den Bischof von Halberstadt. Grund dürften Erbschaftsstreitigkeiten gewesen sein. Immer wieder kämpften die Männer des Bischofs und die Vasallen des Grafen gegeneinander. Ob die sieben Spießgesellen tatsächlich in diese Auseinandersetzungen verstrickt waren, ist nicht belegt. In den Braunschweiger Urkunden wurde lediglich das Urteil über die Verfestung niedergeschrieben. Das Geschlecht derer van Cletlinge verlässt schließlich den Ort und siedelt in den Magdeburger Raum um.  

Viele Informationen enthält das „stadtbraunschweigische Verfestungsbuch“, in dem das Urteil und die Angeklagten festgehalten sind nicht. Dennoch ist die knappe Notiz aufschlussreich. Belegt sie doch, dass es im 14. Jahrhundert einen Tile van Cletlinge oder in anderer Schreibweise Till von Kneitlingen gegeben hat, der im Raum Braunschweig sein Unwesen trieb. Eines ist auffällig: Sein Name, die Lebensdaten und der zweifelhafte Ruf decken sich mit der Biografie eines berühmten Narren und Helden derber Erzählungen - Till Eulenspiegel.  

Die Geschichten um den Schalknarren kennt jedes Kind. Die volkstümlichen, kurzen und oft zotigen Erzählformen der Fazetien oder Schwänke waren vor allem unter der einfachen Bevölkerung beliebt, die weder lesen noch schreiben konnte. Eulenspiegel ist schlau, aber er stellt sich dumm: So nimmt er den Wunsch des Königs von Dänemark, dessen Pferd mit den allerbesten Beschlägen auszustatten, wörtlich und lässt dem Gaul Hufeisen aus purem Gold anschlagen. Oder: Nachdem ihm der Herzog von Celle verbietet, sein Land zu betreten, belädt Eulenspiegel einen Karren mit Erde. Darauf fährt er triumphierend vor der Burg des Herzogs herum und tönt, er würde ja keinen Fuß auf dessen Boden setzen. 

Selbst der tote Eulenspiegel gibt keine Ruhe. Während der Beerdigung rutscht er den Trägern aus den Händen und fällt so unglücklich ins Grab, dass er aufrecht stehen bleibt. Der Legende nach war es den Bürgen dann auch genug der Scherze und sie begruben in einfach stehend.  Die Schwänke um den einstigen Schurken wurden schon im ausgehenden Mittelalter in etliche Sprachen übersetzt und in vielfacher Auflage produziert. Für die damalige Zeit, in der vergleichsweise wenige Bücher im Umlauf waren, ist diese Verbreitung ein beeindruckender Erfolg. Das Eulenspiegelbuch gilt längst als Klassiker. Till wurde zum deutschen Nationalnarren.  

Dabei diente er unterschiedlichsten Ideologien als Galionsfigur. 1807 deutet der Hochschullehrer Joseph Görres, noch beeinflusst von den Idealen der Französischen Revolution, Eulenspiegel als bäuerlichen Prototypen und „plebeyischen Tribun mit der  Schellenkappe“. Im Nationalsozialismus muss er als Beleg für die Klugheit der germanischen Rasse herhalten. Die Forschung der DDR sieht Eulenspiegel dagegen als Vorreiter des Klassenkampfes. 

Aber wer war Till Eulenspiegel wirklich? Das Buch liefert dafür nur wenige Anhaltspunkte. Till soll im Jahr 1300 geboren sein, seine Eltern werden als schlichte Leute beschrieben. Der Vater besitzt allerdings ein Pferd. Im Mittelalter ein Luxus, den sich ein einfacher Bauer nicht leisten konnte. Auch das kaum bekannte Dorf Kneitlingen wurde wohl nicht zufällig als Geburtsort des Narren angegeben. Eines Tages ziehen die Eltern von Eulenspiegel mit ihrem Sohn in die Nähe von Magdeburg - genau wie die Angehörigen Tile van Cletlinges oder Kneitlingens. Diese Übereinstimmungen sprechen dafür, dass das Leben des Straßenräubers in die Figur des Narren Eulenspiegel eingeflossen ist, glaubt Historiker Bernd Ulrich Hucker.  

Und wie kam Till zu seinem Namen Eulenspiegel? Die Antwort findet man in Mölln. Die norddeutsche Stadt hat eine lange Eulenspiegeltradition. Hier soll er aufrecht begraben worden sein. Und tatsächlich starb wohl 1350 ein Tilo dictus Ulenspegel in Mölln. Er war angeblich ein Hofbeamter des Herzogs von Sachsen-Lauenburg. Vielleicht sogar ein Hofnarr. Die Spaßmacher im Rang eines Ministerialen waren gebildet und im Mittelalter hoch geachtet. Auf unterhaltsame Weise erzählten sie den Herrschenden, was das Volk so über sie dachte.  

Auch im Lauenburger Hofbeamten steckt womöglich ein Stück des historischen Till. „Die Überlieferung vom Möllner Ulenspegel verschmolz mit der Sage von seinem Zeitgenossen Tile von Kneitlingen“, so der Eulenspiegel-Experte Hucker. Tatsächlich erwähnt der spätere Bischof von Lübeck Johannes Scheele, in einem Brief von 1411 einen Ulenspegel, der einen Streich begangen haben soll. Sechzig Jahre nach dem Tod Tills sind die beiden Personen demnach schon zu einer Figur geworden.  

Der anonyme Verfasser des Eulenspiegelbuchs dürfte von diesem Ulenspegel gehört haben. Einem schurkischen Tunichtgut, der im Raum Braunschweig sein Unwesen trieb und in Mölln verstarb. Ihm die mitunter bitterbösen Gaunereien anzudichten, wie sie im Eulenspiegelbuch zu finden sind, lag nahe. Eine Figur, von der man sich im deutschen Raum erzählte, eignete sich gut zum Protagonisten der Erzählungen. Die Menschen bekamen etwas zu hören, das sie kannten und mit dem sie etwas verbinden konnten. 

Beweisen lässt sich das alles allerdings nur schwer. Dafür wurden die Geschichten des Nationalnarren über die Jahrhunderte zu sehr verändert, historische Quellen fehlen weitgehend.  
Das Eulenspiegelbuch stammt nicht aus einer einzigen Quelle, sondern ist eine Sammlung von Geschichten unterschiedlicher Herkunft. Mit dem gleichbleibenden Titelhelden bekamen sie ihre Rahmenhandlung. In der ältesten erhaltenen Ausgabe von 1510/11 wird Eulenspiegel übrigens noch ohne Narrenkappe und Schellenkostüm dargestellt. Dieser Ur- Eulenspiegel glich noch sehr viel mehr einem Schurken als dem lustigen Gaukler, den man heute kennt.  

Ein aufmerksamer Leser wird schnell feststellen, dass etliche Eulenspiegeleien in einem anderen Stil geschrieben sind als die übrigen Kapitel. Auch die Persönlichkeit des Narren verändert sich. Und es gibt noch mehr Ungereimtheiten: So wird Eulenspiegel als Zeuge von historischen Ereignissen genannt, die lange vor seiner Geburt oder weit nach seinem Tod stattgefunden haben. So soll er zur Wahl Lothars von Supplingburg zum deutschen König gereist sein. Die fand jedoch bereits 1125 statt, also 175 Jahre vor der Geburt Eulenspiegels. Auch kann er, anders als in der Erzählung behauptet, keinen Papst in Rom besucht haben, da dieser damals in Avignon residierte. So wie viele ihn kennen, hat es Till Eulenspiegel sicherlich nie gegeben.  

Sein letztes, großes Geheimnis behält Till Eulenspiegel also weiter für sich – aber was für ein Schalk wäre er schon, wenn er all seine Schliche verraten würde.



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Dies vollständige Artikel erschien im SPIEGEL-Buch:

Annette Großbongardt, Johannes Salzwedel (Hg.): Leben im Mittelalter Der Alltag von Rittern, Mönchen, Bauern und Kaufleuten Ein SPIEGEL-Buch, DVA München 2014
 Bildquelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ulenspiegel.jpg