Feen sterben, wenn man nicht mehr an sie glaubt

© ahnungsvoll / Hook's Skepsis / 2011
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Woran Kinder früher glaubten und was sie heute fordern, muss nicht zwangsläufig das selbe sein - ein literarisches Essay


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Von Hubertus J. Schwarz   14. August 2011



Hamburg, Christkindlmarkt – Die Fähigkeit zu Glauben gilt als ein essenzieller Bestandteil der Kindheit. Der Glaube an das Christkind ist den meisten Kindern indes schon genommen worden. Ein aufgebrachter Mitarbeiter äußert sich. 

Liebes Christkind,
für Weihnachten wünsche ich mir eine Ironman Actionfigur und eine Carrera Bahn und einen Legotodesstern mit echt abschiesbaren Laserkanonen und eine neue Plaistation 4 mit mindestens drei Spielen und mit zwei Kontrollern damit Max auch mitspilen kann, weil ich dan mehr gewinne. Es gibt sie in der Stadt beim Mediamarkt und beim Spielzeugladen in der Annenstrase und sie kostet blos 399 €. Ich bin immer braf gewesen und hab Max seit drei Wochen nie mehr gehauen. Ich hoffe der Kamin ist gros genug aber mein Freund Max sagt das du eigentlich mein Fater bist.
mit fielen lieben Grüsen,
Christopher

Beim Betrachten dieser Zeilen machte die Mimik des Lesers eine Evolution durch, die einen Pantomime hätte vor Neid erblassen lassen. Einem zunächst amüsierten Schmunzeln folgte ein erstauntes "O", das rasch wieder einer fragend emporgehobenen rechten Augenbraue wich und schließlich in einem Ausdruck absoluten Unwillens gipfelte.

Kopfschüttelnd nahm die gedrungene Gestalt Christophers Wunschzettel von dem Kamin, auf dem er sorgsam auffallend platziert war. Das Wesen steckte den Brief in eine schon recht pralle Aktentasche, die es dann, nicht ohne Mühe und doppelte Anlauf vom Boden stemmte. Das Wesen war klein, dabei aber alles andere als zierlich. Es war ein Zwerg.

Schnaufend machte sich der Zwerg daran, den Kaminsims wieder hinauf zu kraxeln. Auf halbem Wege rutsche er ab und konnte sich nur im letzten Moment noch festklammern. Die Tasche jedoch, entglitt ihm und polterte den Schacht zurück Richtung Salon, gefolgt von weiten Teilen ihres Inhalts. Briefe in allen Farben und Formen regneten zu Boden. Leise fluchend stieg der Zwerg das letzte Stück herunter und machte sich missmutig daran, die verlorene Fracht wieder aufzusammeln.

Einige Augenblicke war er so beschäftigt. Dann lies ihn ein Geräusch aufhorchen. Es erstarrte und lauschte gedämpften Schritten, dann einem Schaben, schließlich dem Knarren der aufschwingenden Salontür. Im einfallenden Licht zeichnete sich der Umriss einer Frau ab. Sie hielt in der Rechten eine Tasse mit dampfender Flüssigkeit, in der anderen Hand balancierte sie einen Laptop. Gedankenverloren tapste sie durch den dämmrigen Raum in Richtung der Sitzgruppe vor dem Kamin.

Dort verharrte der Zwerg noch immer in seiner Schreckstarre. Alles an seiner Haltung lies den inständigen Wunsch erahnen, die Frau möge einfach an ihm vorübergehen und dabei die immer noch umherliegenden Briefe übersehen. Es knisterte. Gequält schloss er die Augen, rührte sich aber noch immer nicht. Die Frau war auf einen der Zettel getreten und blickte nun verwundert über den Rand des Laptops zu Boden. Als sie dort auf den ersten Blick nichts entdecken konnte, machte sie einen Schritt zur Seite, genau in Richtung Kamin. Der Zwerg jaulte auf: „Verdammte Scheiße!“, und erging sich in einem Schwall nicht sehr ziemlicher Verwünschungen.

Das brach den Bann. Für die Frau wurden auf einen Schlag die verstreuten Wunschzettel, der halb gefüllte Sack und eine umherhopsende Gestalt sichtbar, die sich mit schmerzerfülltem Gesicht einen Fuß hielt. In die Schimpftirade mischte sich ein spitzer Schrei.

Die Frau eilte wieder zurück in Richtung Tür und rief dabei nach ihrem Mann. „Egon komm schnell! Da ist was im Wohnzimmer!“ Und als die erwartete Reaktion des Göttergatten nicht umgehend folgte „Egon! Da! Ist! Eine! Ratte!“ Das zeigte Wirkung. Irgendwo jenseits der Salontür begann es zu rumoren.

Bei dem Wort Ratte war allerdings auch der Zwerg schlagartig stehen geblieben. „Ratte? Entschuldigen Sie mal, habe Sie mich gerade eine Ratte genannt?“ Und als die Frau ihn bei diesen Worten nur stumm anglotzte: „Jetzt langt es. Jetzt habe ich endgültig die Schnauze voll. Ich hohl mir hier einen Bandscheibenvorfall nach dem anderen, muss mir die grammatikalischen Frechheiten ihrer Brut antun, ihre Weihnachtswünsche erfüllen und nicht nur, dass es nie aber niemals einen Dank dafür gibt. Oh nein, jetzt werden wir hier auch noch als Ratte diffamiert. Das ist geschäftsschädigend! Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was es …“

Inzwischen war Egon zu seiner Frau gestoßen. Beide blickten wortlos auf den zeternden Homunkulus zu ihren Füßen. Schließlich sagte Egon: „Marie, deine Ratte kann sprechen.“, und Sie darauf: „Ja, und es hört gar nicht mehr damit auf.“ Egon räusperte sich: „Verzeihung, wenn meine Frau Sie beleidigt haben sollte. Es ist kurz vor Weihnachten und wir sind alle etwas erschöpft. Aber darf ich Sie fragen, was Sie hier eigentlich in unserem Salon zu suchen haben?“

Der Tobsuchtsanfall des Zwergs verebbte so rasch, wie er gekommen war. Er warf sich in Pose und setzte zu einer weitschweifigen Erklärung an. „Wer ich bin, nun Sie können es selbstverständlich nicht wissen, da wir in der Vergangenheit immer für einen reibungslosen Ablauf der Wunschfindung garantieren konnten, allerdings war unser Unternehmen durch, sagen wir unerwartet heftige, Einbußen der Kreativabteilung dazu gezwungen, personelle Umstrukturierungen anzustellen, um auch weiterhin das Erfüllen der Kinderwünsche zu Weihnachten fristgerecht gewährleisten zu können. In diesem Zuge hat sich die Führungsebene solidarisch mit der Belegschaft erklärt und sich ebenso zu niederen Kurierdiensten verpflichtet, wie die einfachen Arbeiter. Aus diesem Grund stehe ich als langjährigster Mitarbeiter nun in Vertretung des Christkindes hier vor ihnen.“

Marie quiekte: „Egon, das ist eine Weihnachtsel …“ Warnend hob der Zwerg einen wurstähnlichen Zeigefinger „Fräulein, wagen Sie es nicht mich eine Elfe zu nennen. Wagen Sie es ja nicht. Ich bin ein Zwerg. Und sicherlich keiner dieser androgynen, arbeitsverweigernden Wichtel mit ihrem ewigen Geseire nach Gleichheit und Eintracht. Wissen Sie, was diese Hippies getan haben. Sie haben eine Gewerkschaft gegründet! Ist das zu fassen? Als ob wir nicht schon genug Sorgen hätten. Und an all dem Schlamassel seit nur ihr Eltern Schuld!“

Die Aufmerksamkeit des Zwergs richtete sich wieder gänzlich auf das Ehepaar. „Wieso wir? Was können wir dafür, wenn Sie es nicht schaffen die Weihnachtswünsche unseres Sohnes unbemerkt zu lesen?“ Fragte Marie. Das verfing. Der ohnehin schon ungesunde Rotton im Gesicht des Zwergs begann sich noch dunkler zu färben. „Ihr Menschen und eure Kurzsichtigkeit. Was glaubt ihr, warum ich hier kurz vor Weihnachten Briefe einsammle, anstatt mich wie üblich um die Vorstandssitzungen zu kümmern? Ich war immerhin der persönliche, erste Assistent des Christkindes. Aber mit dem Christkind hat es sich. Aus und vorbei, Ende Gelände. Das Christkind ist so gut wie tot.“

Egon und Marie blickten verständnislos drein: „Tot, wieso tot. Kann das Christkind denn sterben?“ Entnervt rollte der Zwerg mit den Augen: „Das Christkind existiert, weil die Kinder daran glauben das es existiert. Glaube ist praktisch sein Lebenselixier. Und als Dank dafür erfüllt es jedes Jahr aufs Neue die Wünsche der Jungen und Mädchen, die besonders brav gewesen sind. Natürlich nicht in materieller Hinsicht. Das Christkind schenkt für euch Menschen so schwer verständliche Dinge wie Hoffnung und Frohsinn.“

„Aber was hat das mit uns zu tun?“ Fragte Egon. „Eure Konsumwahsninn nimmt den Kindern die Freude an Weihnachten und damit ihren Glauben an das Christkind. Anstatt Zeit mit Christopher zu verbringen, ihm Weihnachtsgeschichten vorzulesen oder einfach einmal mit ihm zu spielen, pilgert ihr in der Adventszeit von einem Kaufhaus zum nächsten. Ihr jagt kreuz und quer durch die überfüllten Einkaufspassagen. Krampfhaft darauf bedacht dem Kind jeden Wunsch von den Lippen zu lesen und am Weihnachtstag mit Geschenken zu überschwemmen.Das heißt, der Kleine wird vor dem Fest in Krabbelgruppen, Kindergärten, oder zu dubiosen Babysittern abgeschoben, damit ihr fröhlich weiter shoppen könnt. Während der Bescherung seit ihr dann so geschafft von eurer Einkaufstournee, dass sich Christopher wieder selbst beschäftigen muss. Für einen Gedanken an den eigentlichen Spender dieses Festes, das Christkind, bleibt da kein Raum mehr. Schaut euch diesen Wunschzettel doch nur einmal an.“ 

Der Zwerg begann zwischen den herumliegenden Briefen zu suchen. Einige Augenblicke später hielt er gleichermaßen triumphierend wie anklagend Christophers Einkaufsliste in die Höhe. „Hier steht es wachsmalfarbenbunt auf Weiß. Liebes Christkind, Max sagt, dass du eigentlich mein Vater bist.“Eure Christopher hat den Glauben an das Christkind verloren, weil es niemanden gibt, der mit ihm zusammen die Geschichten am leben hält. Ich, weiß, rs ist ja um so vieles einfacher Kontakt und Kommunikation mit materiellen Präsenten zu ersetzen. Dabei geht es an Weihnachten aber doch um ein Miteinander, besonders für die Kinder ist es um so vieles wertvoller, wenn ihr mit ihnen die Adventstage verbringt, anstatt die wenige Zeit, die ihr habt, während sie noch um eure Aufmerksamkeit bitten, mit beliebigen Geschenken zu füllen. 

Der verlorene Glaube an das Christkind steht synonym für die Zeit, die den Kindern an Weihnachten geschenkt wird. Wird den Kleinen diese Zeit nicht gegeben, verlieren nichts geringeres als einen wichtigen Teil ihrer Kindheit und in einer schnelllebigen Zeit wie der unseren ist es für die persönliche Entwicklung umso wichtiger, das Kinder auch eine Kindheit erleben können, von der sie den Rest ihres Erwachsenenlebens zehren.Dabei hatte ja einer von euch mal den richtigen Riecher, dieser James Barrie mit seinem Peter Pan und dieser ekelhaft kitschigen Fee. Aber was macht ihr daraus, einen Disneyfilm! Achtet auf die Zeit die ihre mit euren Kindern verbringen könnt, denn nicht nur Feen sterben, wenn man nicht mehr an sie glaubt. Vielleicht ist es dann noch nicht zu spät, dem Christkind wieder Leben einzuhauchen.“


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