Vier gegen das System

© ahnungsvoll / Hamburg / 2011  






















Das deutsche Schulsystem ist bankrott, dennoch werden Alternativen verhindert  – Ein Rückblick
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Das Gespräch führte Hubertus J. Schwarz   21. November 2011

Hamburg, Deutschland – Leistung, Effizienz, Tempo. Mit den PISA-Studien ist der Druck in den Schulen enorm gewachsen. Darunter leiden Schüler wie Lehrer, vor allem aber die Qualität des Unterrichts. Zusammen mit drei anderen jungen Leuten hat Kim-Fabian von Dall’Armi versucht aus dem System auszubrechen und etwas Eigenes auf die Beine zu stellen: Ein selbstorganisiertes Abi! Letztendlich sind sie an der Bürokratie gescheitert. Ein Rückblick. 

Das Projekt Freies Abi ist jetzt zwei Jahre her. Hast du das Ganze für dich schon verdaut?
Wir vier haben uns letzten Herbst getroffen um alles aufzuarbeiten. Das war gut, hat uns aber auch nochmal gezeigt, wo wir gescheitert sind. Vielleicht war es auch mal wichtig auf die Schnauze zu fliegen. Aber es hätte nicht so passieren sollen. Wir standen damals da und hatten diese Idee. Wollten auch wirklich was leisten. Ist ja nicht so, dass wir nur gechillt haben. Wir nahmen sogar den Mehraufwand auf uns. Alles was wir wollten war nur, dass man es uns probieren ließ.

Was hat den Anstoß für diese Idee des Freien Abis gegeben?
Irgendwann kommt die Frage:  Abi ja oder nein? Wir hatten dabei irgendwie das Gefühl, dass das Abitur, wie es heute besteht, nur eine ganz bestimmte Art zu lernen zulässt. Wir haben uns gesagt: Diese Konditionierung auf eine Abfrageprüfung, das kann doch nicht sein, dass das wirklich eine Reifeprüfung ausmacht.

Aber dieses Gefühl war noch nicht der Anstoß für das Projekt.
Doch, das war unser Ansatz. Das Gefühl, dass dieses reine Abfragen von Fakten, ohne zu hinterfragen, eine ganz unzeitgemäße Art ist, mit Dingen umzugehen. Wir haben es damals für uns so formuliert: wir stehen vor dieser Welt und diese Welt brennt und eigentlich braucht es viel mehr als einfach nur Englisch, Deutsch und Mathe. Es braucht Handlungskompetenzen um Verantwortung zu übernehmen.

Was war für euch daraus die logische Konsequenz?
Wir haben uns gesagt: Ok, wir wollen das Abi! Aber es muss doch möglich sein, sich diesem anders zu nähern. Und dann entstand unsere Idee: Man könnte es nach der Regel versuchen, die es in Deutschland gibt, dass jeder in die Abendschule gehen kann, um sein Abi nachzuarbeiten. Das nennt man die Schulfremdenprüfungen. 

Aber diese Schulfremdenprüfung gilt eigentlich nicht für Schüler.
In Hamburg hatten wir zu der Zeit eine grüne Bildungssenatorin, Frau Götsch. Sie hat ein Programm gestartet, das nannte sich „Selbstverantwortete Schule“ – SVS. Ihr Ansatz war: Wir brauchen mehr Selbstbestimmung! Weil es bei guter Bildung darum geht, individuelle Qualitäten zu fördern. Wir haben uns dann gesagt: Ok, wir versuchen uns selber vorzubereiten auf das Abitur. Wir gründen eine eigene Schule. Die quasi als freie, selbst organisierte und selbstverwaltete Abiturvorbereitung funktioniert. Und damit sind wir zu Frau Götsch gegangen.

Wie hat sie reagiert?
Sie sagte: Ja, find´ ich total gut, total klasse. Machen wir! Es war ab da also politisch Ok, aber wir mussten halt durch das ganze Administrative durch. Denn der Verwaltungsapparat hatte natürlich keinen Bock drauf, denn das bedeutet: Mehraufwand. Wir haben uns mit denen dort echt abgekämpft...

Abgesehen von Frau Götsch. Wer hat euch noch unterstützt?
Wir haben einen Antrag bei der EU gestellt. Nicht für das freie Abi. Das wollten wir selber finanzieren. Aber für Projekte und Seminare rund herum. Denn das war uns von Anfang an wichtig: Unsere „Schule“ soll auch für andere einen Mehrwert haben, soll die Möglichkeit bieten, sich mit Themen und Fragen auseinanderzusetzen, die nicht im offiziellen Lehrplan verlangt sind. Deshalb haben wir alle zwei Wochen öffentliche Seminare veranstaltet, regelmäßig einen „Kulturcafe-Abend“ organisiert, Filme gezeigt, Bilder junger Künstler ausgestellt ...  Von der GLS-Stiftung (Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken, Anm. d. Red.) haben wir Geld als Unterstützung bekommen. Für Raumeinrichtung etc. Und so konnten wir uns, mitten im Herzen von Hamburg, eine wirkliche nice Location organisieren: Ein altes Backsteinhaus, Hinterhof, mit 45 Quadratmetern, Toiletten, Küche und allem Drum und Dran. 

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Was ist für euch mit dem Abitur nicht in Ordnung?
Das Abitur ist ja in den letzten Jahren immer wieder „nachgebessert“ worden. Ich würde sagen, verschlimmbessert. Also viel mehr reguliert, zentrale Prüfung und so weiter. All das, um vergleichbare Standards zu schaffen – so ein Schwachsinn! Es geht hier ja nicht um Standards. Es geht darum, dass junge Menschen ausgebildet werden, um in dieser Gesellschaft Verantwortung übernehmen zu können. Und da macht es doch gerade Sinn, sie zu ermutigen selber aktiv zu werden. Aber was passiert, ist eigentlich, dass mehr und mehr eine krasse Bevormundung eintritt. Unter dem Deckmantel der Vergleichbarkeit und der Qualitätssicherung – eine total absurde Sache. Der Haken beim Schulfremdenabitur ist, dass es viel, viel schwieriger ist als das normale Abi. Bis heute ist mir nicht ganz klar, ob die Behörde uns verarscht hat. 

Was war bei den Anforderungen denn letztendlich das Problem?
Wir hatten uns halt vorbereitet auf den Rahmenplan der Oberstufe für die Abiturfragen. Wir dachten der gilt. Und ich bin mir auch sicher, dass wir richtig lagen. Die Behörde meinte dann aber aus heiterem Himmel im September: Nee, die Vorgaben die ihr da habt, die sind für das Schulabitur. Aber ihr macht ja das Schulfremdenabitur. Die haben uns dann eine Liste vor die Nase gesetzt, mit dem was wir wissen müssen. Und wir standen davor und dachten nur: Oh mein Gott! Zum Beispiel in Deutsch sollten wir, von der Aufklärung bis heute, sämtliche Literatur – also jeder Gattung und jeder Zeitepoche – jeweils die bekanntesten Werke in petto haben. Nicht für einen Leistungskurs, nur so, als grundlegende Kenntnisse. Im Leistungskurs kommt dann noch die ‘Problematik der Ästhetischen Wertung in der Literatur‘ dazu. Ein Thema, das in der Oberstufe in Deutschland überhaupt nicht behandelt wird! Damit schlagen sich Germanistik Studenten im vierten oder fünften Semester herum. Und dasselbe in Mathe, Biologie, und so weiter. Am Ende waren wir dann eben nur noch zu viert. Der Rest von anfangs zwölf hat gesagt, er packt das nicht.

Habt ihr euch nicht gewehrt?
Wir haben es halt trotzdem versucht. Und dachten wir würden das irgendwie schaffen. Aber irgendwann ging es halt nicht mehr. Gerade weil wir unsere Ziele so hoch gesteckt hatten. Mit all dem, was wir sonst noch getan und organisiert haben. Haben geile Ideen gewälzt. Daran sind wir alle wahnsinnig gewachsen, weil wir uns eben die Zeit für uns selber genommen haben. 

Was waren solche Themen, mit denen ihr euch beschäftigt habt?
Zum Beispiel der Konflikt im Nahen Osten. Wir haben uns dann, weil wir Bock hatten, mit Palästina, Israel und dem Islam auseinandergesetzt. Mit der palästinensischen Gemeinde einen Filmabend organisiert und zwei intensive Seminare zum Thema Islam gehabt. Eben weil es ein dominantes Thema ist, und wir uns dazu ja irgendwie positionieren müssen. 

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Ab welchem Zeitpunkt habt ihr gemerkt, dass das Projekt so nicht funktioniert? 
Ende Oktober war klar, das packen wir nicht. Wir packen es nicht gleichzeitig Schüler, Unternehmer und Lehrer zu sein. Und daneben vielleicht noch ein Privatleben zu haben. Wir waren schließlich alle 18, 19 Jahre alt.

Dann habt ihr das Projekt abgebrochen?
Ja, dann haben wir uns entschieden, wir beenden das Freie Abi. Und versuchen an eine normale Schule zu gehen. Zwei von uns haben gesagt: Ok, wenn das System uns fickt, ficken wir das System. Und sind nicht auf die Schule zurückgegangen. Wir anderen haben es versucht und sind dann glücklicherweise an unserer ehemaligen Schule genommen worden. Die hatte unseren Versuch generell sehr wohlwollend betrachtet. Und wir haben uns da ja auch echt abgestrampelt wie die Bescheuerten. 

Was hat das mit euch gemacht? Als ihr das Projekt aufgeben musstet?
Wir sind daran ziemlich zerbrochen. Denn der Verwaltungsapparat hat kein Interesse an neuen Strukturen. Null! Vielleicht nicht die Einzelpersonen. Die mögen total nette Menschen sein, innovativ und kompetent. Aber die Verwaltungsmaschine ist träge bis ins Letzte! Und diese Erfahrung, die hat uns echt zu schaffen gemacht. 

Wie stehst du jetzt dieser Bildungsverwaltung gegenüber?
Ich würde gern den einen oder anderen im Verwaltungsapparat mal einen Kopf kürzer machen. So nach dem Motto: Wacht auf! So könnt ihr nicht mit jungen Leuten umgehen. Mit Leuten, die sich engagieren wollen. Das Hamburger Bildungsministerium hat uns zwar nicht komplett abgesägt, aber uns wurden doch viele Steine in den Weg gelegt. Das Absurde daran ist, dass wir andererseits von der EU knapp 8.000€ bekommen haben und die zu uns sagten: Wir brauchen genau solche Leute wie euch! Junge Leute, die neue Ideen haben.

Was hättet ihr besser machen müssen?
Wenn wir mehr Leute gewesen wären. Vielleicht - wie zu Beginn - zwölf, statt vier. Damit wir die administrativen Aufgaben hätten teilen können. Wenn wir uns wirklich ein Jahr vorbereitet hätten. Also von Januar 2009 bis zu den Prüfungen im Februar 2010. Und nicht erst ab September. Vorallem, wenn wir alles rund um das Abi abgespeckt hätten, die ganzen Seminare, Veranstaltungen und Projekte - dann wäre es aber reizlos, wieder nur reine Konditionierung auf fremdbestimmte Anforderungen. Und genau das wollten wir ja nicht!


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Ein Gastbeitrag von Julia Slamanig
Erschienen im joe04 / Herbstausgabe 2011
Eine Reportage für die Eurotours 2011
Mehr findet ihr hier: Ich spreche – ljubljana