Trutzburg mit Gedächtnis

© ahnungsvoll / Tuschinski Theater / Amsterdam / 2014




 Einmal ins Tuschinski – Was tun, wenn man in Amsterdam [1]
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Von Hubertus J. Schwarz   21. März 2014


Amsterdam, Deutschland – Was tun, wenn man nach Amsterdam reist. Vielleicht das erste Mal dort ist, oder für den wiederholten Besuch mehr möchte, als dem Drogen-Touristen zu entsprechen. Der erste Vorschlag:

1. Sieh dir keinen Kinofilm im Pathé Tuschinski an, sondern achte auf alles außer der Vorstellung.

Es ist März und so enteilen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne schon am Nachmittag hinter den Häuserfronten Amsterdams. Von einem Moment auf den anderen ertrinken die Gassen in wirrem Zwielicht, von einem Moment auf den anderen rumpelt kaum noch ein Fahrrad über das Kopfsteinpflaster. Dennoch ist der Teufel los. Scharen von Feierabendpendlern, angesäuselten Studenten oder Gruppen jugendlicher Nachtschwärmer beanspruchen nun die Straßen der Stadt. Sie sind unterwegs zum Absacker in eine der unendlichen Bars und Kneipen. Oder sie gehen ins Kino. 

In Amsterdam gibt es eine bunte Kohorte an Filmpalästen. Ein Stufe über jedem anderen aber, beinahe schon als cineastischer Sakralbau verehrt, thront das Tuschinski Theater. Vor seinen virtuos ausgeleuchteten Fassaden ballen sich an diesem Abend die Verstreuten zu einem unentwirrbaren Knäul aus Leibern. Dort wo es am grellsten strahlt, aus den weit geöffneten Eingangsportalen, wirkt die Szenerie beinahe wie das kurze, tragische Lied vom Licht und der Motte. Das wuchtige Gebäude blickt trotz der vielen Scheinwerfer streng und düster, die Erker und buckligen Wände werfen mehr Schatten, als die Beleuchtung vertreiben könnte. Es scheint, als hätte das Haus viel zu erzählen und noch mehr erlebt.

Und tatsächlich öffnete das Kino und Varieté Theater seine Pforten vor über 90 Jahren. 1921 untermalte noch ein eigenes Orchester inklusive zweier Orgeln die Aufführungen. Erst rund sechs Jahre später fand die Premiere des ersten abendfüllenden Tonfilms statt.

Den Namen Tuschinski erbte der Filmpalast von seinem Bauherren und Inhaber, Abraham Icek Tuschinski. Aus Polen wollte dieser mit seiner Familie eigentlich nur Station machen in den Niederlanden und dann nach Amerika immigrieren. Doch blieb er in Rotterdam stecken, gründete dort mehrere Kinos und verwirklichte schließlich mit dem Theater in Amsterdam seinen Lebenstraum, einer für jeden zugänglichen Oase der Entspannung im Herzen einer pulsierenden Großstadt. Noch heute zeugt das im Teppichboden des Entrée eingearbeitete polnische Wappen von der Herkunft des ehemaligen Besitzers. Architekt war hingegen ein Mann namens Hijman Louis de Jong, dessen berühmtestes Werk das Kino bleiben sollte. 

© ahnungsvoll / Tuschinski Theater / 2014
Trotz dem wilden Konglomerat von Art Déco, Amsterdamer Schule und neugotischen Elementen, präsentiert sich das Tuschinski Theater gemeinhin als gelungenes eklektisches Bauwerk. Zwischen den schmalen, beinahe zierlichen Grachtenbauten wirkt das bullige Gemäuer mit seinen beiden Türmen wie eine verirrte Trutzburg, das Amsterdamer Dungeon hätte ebenso hier hereingepasst. Und dennoch kommt einem das Tuschinski, gerade während der Dämmerung, getaucht in die Lichtkegel der Scheinwerfer, mehr wie eine spannende Abwechslung im Klinkerbauten-Einerlei vor, denn wie ein negativer Fremdkörper. 

Im Inneren von Abraham Tuschinskis stein- und realgewordener Wunschvorstellung eines Filmpalastes fühlt man sich wie Alice im Wunderland, tief im Kaninchenbau. Wandgemälde, handgeknüpfte Teppiche, dann plötzlich eine „maurische Suite“ oder das „japanische Teezimmer“, der Architekt hat sich ungeniert an den unterschiedlichsten Stilelementen und aus verschiedenen Epochen bedient. Überall kann man die Detailliebe erahnen und wo das Tuschinski nicht verspielt herüberkommt, da ist es imposant. Allein der besagte Wappenteppich aus der Eingangshalle musste ob seines ungeheuren Gewichts bei seiner Restaurierung von 50 Männern getragen werden.

Auch der in Amsterdam sonst so knapp bemessene Raum, scheint hier den Gesetzen der physischen Realität entwunden. Das Tuschinski scheint in seinen Dimension wirklich einem Palast im Wortsinn nahe zu kommen. Der große Saal bietet Platz für 784 Cineasten ursprünglich sogar für 1600. Wer es gerne intimer hat, nimmt einen der fünf kleineren Vorstellungsräume und sitzt dort immer noch mit 100 bis 200 anderen. 

© Pathé / Großer Saal / 2014
So ist es kein Wunder, dass das Kino Anlaufstelle derer wurde, die in Amsterdam gesehen werden wollten. Annähernd jeder niederländische Bühnenkünstler, der etwas auf sich hält und viele ausländische Größen der Branche sind hier schon einmal aufgetreten. Marlene Dietrich hat von Tuschinskis Brettern die die Welt bedeuten das Publikum verwöhnt, ebenso wie Édith Piaf, Dionne Warwick, Dizzy Gillespie oder Fats Domino. Und Judy Garland war sowohl als Sängerin, als vielleicht auch mit ihrer Paraderolle im Zauberer von Oz zu sehen. Allerdings sicherlich erst, nachdem wieder Frieden in Europa eingekehrt war, denn der Film startete 1940 und das waren düstere Zeiten für die Niederlande, Amsterdam und Tuschinski.

Den bisher dunkelsten Teil seiner Geschichte erlebten das Theater und Abraham Tuschinski dann auch unter dem Nationalsozialistischem Regime. Der Filmpalast wurde erst von den Besatzern geschlossen, dann in „Tivoli“ umarisiert. Tuschinski deportierte man mitsamt seiner Familie nach Auschwitz. Von dort sollten sie nicht mehr lebend zurückkehren. 

Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends betreibt das Unternehmen Pathé den Filmpalast. Und so stehen neben niederländischen Produktionen natürlich auch die Auswürfe Hollywoods auf dem Programm. Einmal im Monat gibt es dagegen eine Nostalgievorstellung, vielleicht ist ja auch mal Judy Garland dabei. Aber das mag hier nur Nebenschauplatz sein. Wer nach Amsterdam fährt, der soll sich für eine Vorstellung in den Grotten Zaal setzen und einfach nur die Atmosphäre und dem Flare eines großartigen Kinos genießen. Der Film ist unwichtig.


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