Kein Seeblick trotzdem Me(e)hr

© ahnungsvoll / Greaanpeace Sirirus / Amsterdam / 2014



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  Blind im Zeezicht mit Appelstaart – Was tun, wenn man in Amsterdam [2]
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Von Hubertus J. Schwarz   22. März 2014


Amsterdam, Niederlande – Was tun, wenn man nach Amsterdam reist. Vielleicht das erste Mal dort ist, oder für den wiederholten Besuch mehr möchte, als dem Drogen-Touristen zu entsprechen. Der zweite Vorschlag:

2. Setz dich ins Café Villa Zeezicht, bestell den "besten Apfelstrudel der Niederlande", schließ die Augen und warte ab was geschieht. 

Wenn hier nicht der Bär steppt, wo sonst? Immerhin ist Amsterdam die größte Metropole und Hauptstadt der Niederlande. Allerdings nicht deren Regierungssitz, der liegt zusammen mit der köhööniglichen Residenz in Den Haag, welches nebenbei noch nicht einmal eine richtige Stadt ist. Dem gerecht ist der Andrang an Menschen, die zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten die Straßen und Grachten Amsterdams bevölkern, unüberschaubar, oft erdrückend. Pendler pendeln, Huren huren, Fahrradfahrer fahren wie angeschossene Wildsauen und die Touristen sind einfach nur im Weg. 

© ahnungsvoll / Amstelbotel / 2014
Es ist etwa 10:00 morgens. Für mich als notorische Nachteule der frühestmögliche Zeitpunkt, um aktiv am Weltgeschehen teilzunehmen. Aus Gründen finanzieller Beklommenheit liegt meine Unterkunft am gegenüberliegenden Ufer der Innenstadt. Sie hört auf den sinnigen Namen Botel und ist in etwa das, was der Begriff verspricht: ein Boot umfunktioniert zu einem Hotel. Zumindest erweckt es den Anschein, in Wahrheit präsentiert sich der Koloss als im brackigen Hafenwasser dümpelndes Sünden Sodom und grausiges Gomorra. Die schiffseigene Disko donnert ununterbrochen musikalische Blüten der 90'er und 80'er Jahre aus den Lautsprechern. Bis tief in die Nacht hinein werden Mottoabende und verkappte Karnevale veranstaltet. Der Schiffsrumpf, vielleicht in Verbindung mit dem Wasser des Hafenbeckens, vibriert wie ein überdimensionierter Klangkörper und lässt die Betten noch drei Stockwerke über der Jukebox erzittern. Da passen Crew und besonders der Concierge in seiner Fantasieuniform á la Captian Jack großartig ins Bild. 


© ahnungsvoll / Faehrstation Veer NDSM Werft / 2014
Es ist etwa 10:15 Uhr. Dezent übernächtigt und als Archetyp meiner Generation schalte ich, quasi noch im Aufwachen begriffen, zuerst einmal den Fernseher an. Ich bin in Amsterdam und dem zum Trotz quakt mir eine animierte Pippi Langstrumpf, immerhin auf Niederländisch, entgegen. Die Alternative besteht in einer Wiederholung von Stefan Raab (nicht akzeptabel) und einem erstaunlicherweise im gesamten Hotel freigeschaltetem Pornoangebot (Kinder an Board?). 

Ich resigniere und rumple aus meiner Koje Richtung Dusche. Die präsentiert sich als Oompa-Loompa Version ihrer selbst und verdient den eigenen Namen nicht im Geringsten. Selbst eingedenk der auf einem Schiff beengten Verhältnisse ist ein Duschkopf in Kniehöhe einfach nicht hilfreich. Allmählich spiele ich mit dem Gedanken die eigenen Vorsätze und das überproportionale Drogen-Verbotsschild an der Tür zu ignorieren. Die Unannehmlichkeiten ließen sich vernebelt durch einen Schleier blauen Dunstes sicherlich leichter ertragen. Natürlich und nicht zuletzt auch in Ermangelung der nötigen Zutaten widerstehe ich.

Es ist etwa 10:30 Uhr. Mit blitzsauber gewaschenem Knie mache ich mich auf den beinahe direkten Weg ins Zentrum Amsterdams. Die nächste Fähre pendelt keine zwei Minuten vom Pier entfernt und alle fünfzehn Minuten richtig Hauptbahnhof. Es ist erstaunlicherweise windstill und so bleibt mir der "Eine-arktische-Windböe-treibt-mir-die-Müdigkeit-aus-den-Gliedern-Moment" noch einige Augenblicke erspart. Ich tapse über den Steg in Richtung Fährstation.

Eingekeilt liegt mein Botel zwischen dem designierten Greenpeace Schoner Sirius, einem altvorderen Feuerwehrschiff und dem sagenumwobenen Hanf-U-Boot. Zusammen mit den gegenüber schwimmenden historischen Frachtkähnen auf Segelbasis bildetet dieses nautische Kuriositätenkabinett eine recht erstaunliche Armada

Eingepfercht mit gefühlt dreihundert Fahrradfahrern, einigen Moped Yuppies und etwas Fußvolk spiele ich humanes Tetris während der Überfahrt. Rücksichtslos an die Bordwand gedrängt und so den Witterungsverhältnissen im offenen Hafenbecken ausgesetzt, erwischen mich nun auch Gischt und Wind. Ich kralle mich an meine Nachbarn und versuche nur wenig Wasser zu schlucken. Nach etwas zwölf Minuten hat der Horror ein Ende. Ich beende vorsichtshalber mein gedehntes Stoßgebet, schmeiße eine Miesmuschel und mehrere Seesterne, die es sich auf mir gemütlich gemacht haben, zurück ins Wasser und krieche erhobenen Hauptes von Board.


© ahnungsvoll / Amsterdamer Hafen / 2014
Es ist etwa 10:45 Uhr. Ich bin wach und nun auch von Kopf bis Fuß geduscht, wenn auch nicht unbedingt mit der Art kühlem Nass, das mir dafür lieb gewesen wäre. Als Vorteil meiner unfreiwilligen Hafenwasser-Testfahrt erweist sich jedoch der mir nun anhaftende Geruch. Mich umwabert eine beinahe fassbare Dunstglocke aus dem Gestank von brackigem Wasser, Industrieabfällen, Kot, überreifen Meeresfrüchten, Öl, Terpentin und all dem Unnennbarem, was sich sonst in dem Sud des Hafenbeckens tummelt. Da meine eigene olfaktorische Wahrnehmung schon vor geraumer Zeit den Geist aufgegeben hat, merke ich nichts. Nichts außer dem "Moses-und-das-Meer-Effekt". Auf meinem Weg durch die Stadt teilt sich vor mir die Menge und ich komme wiedererwartend rasch an mein erstes Etappenziel. Selbst die ansonsten berserkergleichen Radler weichen mir nun aus, statt ich ihnen. Es ist großartig! Ich gedenke die Dusche im Botel von nun an sich selbst zu überlassen und mich für meine Amsterdamer Zeit nur noch im herrlichen Brodem des Hafens zu suhlen. 


© ahnungsvoll / Café Villa Zeezicht / 2014

Es ist etwa 11:00 Uhr. Viel zu schnell trocknet mich die Sonne und mein Schutzschild aus Gerüchen verfliegt. Das hat den unbestreitbaren Vorteil, dass die Kellner des Café Villa Zeezicht ihren erbitterten Widerstand aufgeben und mir nun doch erlauben, mich an einen der Tische zu setzen. Wenn auch nur im Freien. 

An einer der breiteren Brücken der Singelgracht gelegen, präsentiert sich das Café als niedliches Etablissement in dem man über den gesamten Tag einkehren und immer eine passende Köstlichkeit gezaubert bekommt. Es pendelt zwischen Künstlertreff und Touristenhotspot, ist dabei aber immer noch angenehm unkonventionell. Nicht zuletzt durch die etwas abgedrehten Kellner. Wenn man Glück hat, kann man genussvoll und schadenfroh zusehen, wie sie die anderen Gäste herablassend behandeln. Das eigentliche Sahnehäubchen ist aber der mittlerweile schon international berühmte Apfelstrudel mit Zimteis. Bemüht man Google, so stößt man zwangsläufig auf die Empfehlung die "leckere Broodjes" nicht zu verpassen und unbedingt den "himmlischen Appeltaart" zu probieren. Letzteres kann ich bestätigen. 


© ahnungsvoll / Café Villa Zeezicht 2 / 2014
Dem entgegen kann der Name des Cafés allerdings nicht halten, was er verspricht. Seeblick gibt es hier weit und breit keinen. Was allerdings unter der Woche ab 11:30 geschieht, eröffnet eine annehmbare Alternative: Der Amsterdamer Flughafen wechselt die Landebahn der beinahe minütlich ankommenden Touristenflieger, die Einflugschneise führt nun direkt über die Villa Zeezicht. Als mein bestellter Gaumenorgasmus aus Apfelstrudel und Zimteis ankommt, ignoriere ich den gestrengen Blick der Multatuli Statue im Rücken und schließe die Augen. Das gedämpfte Dröhnen der Passagiermaschinen über mir erinnert sehr an Meeresrauschen und mit dem Geruch des warmen Strudels und einem Hauch meines unfreiwilligen Seeganges in der Nase lässt es sich hier wirklich aushalten. Was will man meer.


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Kalorien des Appelstraat: circa 100.000 
Adresse: Torensteeg 7 
1012 TH Amsterdam