Mit jeder Faser

© ahnungsvoll | Mit jeder Faser / Berlin / 2013
 
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 Eine Primaballerina erinnert sich 
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Von Hubertus J. Schwarz   14. Februar 2015
 
Brüssel, Belgien – Sie war der Skandal des Jahres 1972: Die Tänzerin Beatrice Cordua tanzte in John Neumeiers Inszenierung von "Le sacre du printemps" – splitternackt. Heute sieht sie sich Sasha Waltz’ Inszenierung des Balletts an und ist fassungslos.

Das Erste, was sie sagt, als sie den Zuschauerraum der Brüsseler Oper La Monnaie betritt: "Hier habe ich auch schon getanzt." Dieser wehmütige Tänzersatz. Beatrice Cordua war Erste Solistin bei John Neumeier, sie hat ihr Leben auf der Bühne verbracht. Und der Tanz hat sie nicht losgelassen, das ist zu spüren, als sie in den Reihen mit den roten Samtsesseln steht, klein und elegant, energisch und ein bisschen aufgeregt.

Beatrice Cordua ist wegen Strawinsky hier. Le sacre du printemps, dieses Jahrhundertballett, mit einer Partitur, in der die Rhythmen wüten, klang, als es 1913 in Paris uraufgeführt wurde, so archaisch und so modern wie kein anderes Ballett zuvor. Vaslav Nijinsky machte dazu eine Choreografie mit stampfenden Bewegungen, verkrümmter Körperhaltung und einwärts gedrehten Füßen. Das Pariser Publikum war außer sich. Als John Neumeier das Werk 1972 in Frankfurt choreografierte, tanzte Beatrice Cordua das Solo zum Schluss. Das Mädchen, das den Göttern geopfert wird, das sich zu Tode tanzt.

Anders als andere Neumeier-Ballerinen, Marcia Haydée etwa, die unter Neumeier die Kameliendame tanzte, hat ihre Solopartie sie nicht unsterblich gemacht. In den siebziger Jahren war Beatrice Cordua bekannt, es gab Porträts von ihr in der Zeitung, heute erinnern sich nur noch wenige an ihren Namen. Von wem aber ließe man sich lieber zu dieser Vorstellung begleiten, hundert Jahre nach der Uraufführung, als von der Frau, die der Geschichte dieses Werkes einen zweiten Skandal hinzufügte? Beatrice Cordua stand damals nackt auf der Bühne. Wie sie dieses Solo tanzte, war nicht schön oder erotisch. Es war erschütternd, existenziell. Bei der Generalprobe fiel eine Frau in Ohnmacht. 

Als die zaghafte Klarinettenmelodie jetzt aus dem Orchestergraben aufsteigt, mit der Le sacre beginnt, sitzt Beatrice Cordua ganz vorne auf ihrem Sitz. Sie zählt das Stück immer noch durch, unwillkürlich, sie weiß auch noch jeden Schritt, den sie damals machte. Die Choreografie von Sasha Waltz beginnt im Halbdunkel. In der Mitte der Bühne liegt feine, dunkle Kieselerde auf einem Haufen, die durch die Bewegungen der Tänzer bald über die ganze Bühne zerstoben wird. Ein Zitat aus der Choreografie von Pina Bausch, die Le sacre auf unebenem, lehmigem Boden vertanzt hat. Waltz choreografiert die tastende Suche einer Gemeinschaft nach ihrem Opfer, einen kollektiven Taumel, der in seinen räumlichen Anordnungen zufällig erscheint und sich doch nach naturgegebenen Gesetzen vollzieht. Jeder kann vom Jäger zum Gejagten werden. Das Mädchen, das geopfert werden soll, bekommt ein violettes Büßerkleid. 

Die erste Begegnung mit Beatrice Cordua hatte Wochen zuvor in Berlin stattgefunden: Sie öffnete die Tür zu ihrer Wohnung, trug Jeans und ein schlichtes T-Shirt und hatte immer noch dieses Mädchenhafte an sich, das der Lohn ist für die Härten des lebenslangen Trainings, das nicht nur den Körper fordert, sondern auch den Willen. Und das sich dann in eine Mühelosigkeit der Bewegungen übersetzt, manchmal auch des ganzen Seins.

Kunst, sagte Beatrice Cordua damals, sei nur dann gute Kunst, wenn sie radikal sei. Radikal, dieses Wort fiel immer wieder schon bei der ersten Begegnung, auch bezogen auf den Tanz und natürlich auf Strawinskys Le sacre. Beatrice Cordua möchte, dass Kunst aufrichtig ist, wahrhaftig und auch schmerzhaft. Für den Künstler und den Zuschauer. Deshalb steht sie in ihren eigenen Stücken immer noch nackt auf der Bühne, sie entblößt sich, obwohl sie weiß, dass ihr Körper nicht mehr schön ist, sie lässt sich schlagen und traktieren. Es muss so sein, kompromisslos, sie will das aushalten. 

Einen starken Willen hatte sie schon immer. Ihr Körper war für das klassische Ballett nicht ideal veranlagt. Aber sie wollte tanzen, unbedingt, und sie war unnachgiebig, vor allem zu sich selbst. Damit hat sie John Neumeier überzeugt, der ihr eigentlich kündigen wollte, als er nach Frankfurt kam. Dann gab er ihr das Solo in Le sacre.

Es war eine glückliche Entscheidung. Ohne sie wäre das Stück ein anderes geworden. Wenn Beatrice Cordua heute daran zurückdenkt, erinnert sie sich an die Intimität dieser Proben, als sie nackt vor dem Choreografen und dem Ballettmeister stand und völlig unbefangen sein konnte, weil sie sich sicher fühlte. Sie erinnert sich an ein Gefühl der Freiheit auf der Bühne, allein mit der Musik, tanzend. Aber sie weiß auch noch, wie schwer das alles war. In ihrem Solo sollte sie das verkörpern, was nach einer großen Katastrophe übrig bliebe, das letzte Zucken eines Körpers, den letzten Nervenrest. Eine Tortur, fünf Minuten lang. "Du darfst es nicht machen, es muss dir passieren", sagte Neumeier damals. "Es war wie ein Autounfall", sagt Beatrice Cordua heute.

Von dieser Gewalt ist bei Sasha Waltz‘ aktueller Inszenierung, deren Deutschlandpremiere am kommenden Samstag an der Berliner Staatsoper bevorsteht, nichts mehr zu sehen. Vielleicht ist alles etwas zu schön geraten. Zu schön die filigranen Körper in den fließenden Kostümen, die sich zu einer Farbpalette in Erdtönen und Pastell auffächern, wenn die Tänzer auf der Bühne herumwirbeln, barfuß und auf halber Spitze. Zu schön das Paar, das sich zu Beginn des Stücks im Dämmerlicht umarmt. Zu sanft die Andeutung einer Orgie, bei der die Kostüme aber anbleiben. Und enttäuschend auch der Moment, als die Solistin sich ihr Kleid über den Kopf zieht, und nackt auf der Bühne steht, wie Beatrice Cordua damals, bevor der frenetische Tanz begann.

Nach der Vorstellung steht Beatrice Cordua im Foyer der Brüsseler Oper und ist fassungslos. Darüber, dass alles so harmlos war, dass nichts sie erschüttert hat. Natürlich findet sie das, was sie damals mit Neumeier machte, immer noch besser. Radikaler. Am radikalsten aber, sagt sie, sei die Choreografie von Nijinsky, die das Joffrey Ballet 1989 in einer rekonstruierten Fassung zeigte. Weil sie in sich geschlossen sei, formal schlüssig und vor allem zwingend. Vielleicht hat Nijinsky damals schon alles gezeigt, was diese Musik offenbart. Beatrice Cordua ist, mit 72 Jahren, mit diesem Stück aber noch nicht fertig. Bald wird sie in einem Tanzprojekt der Choreografin Esther Salomon auftreten, es wird darin auch um Le sacre gehen.  



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Diese Reportage erschien vormals in DER ZEIT