Grossstadtraunen

© ahnungsvoll / Old Chicago with Zepplins / 2015

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Von Menschen, die sich im Schatten der Stadt verlieren
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Von Hubertus J. Schwarz   1. März 2015


Prolog – Das Lokal war brechend voll, jeder der kleinen Tische von Pärchen, die Logen mit Gruppen von Leuten besetzt. Die Atmosphäre lag schwer, doch nicht unangenehm. Rauch schwängerte die Luft unter dem großen Luster der mit mattem Licht das Szenario beleuchtete. Zwischen den Tischen eilten Kellner beflissen hin und her. Dirigiert durch den Ober, der unaufdringlich in der Mitte des Etablissements stand und von dort das Geschehen lenkte. Dennoch war es nicht laut, vielmehr herrschte nur eine vage Ahnung von Lärm. Leise klirrende Bestecke, die Gespräche nur als gedämpftes Murmeln zwischen den Tischen und Logen aus dunklem Holz zu vernehmen. In den großen Kaminen um die sich hohe Ohrenbackensessel gruppierten, flackerten mit Aromen begüterte Flammen. Das brennende Holz verströmte einen schweren, betörenden Duft, der das Wohlbefinden und die Entspannung fördern sollte. Von den Personen in den zum Feuer gewandten Sesseln sah man nicht viel mehr, als deren Füße, in edles Schuhwerk gekleidet, und stetigen Pfeifenrauch über den Lehnen aufsteigen. Erlesene Getränke wurden gereicht, während irgendwo hinter großen, schweren Vorhängen ein Streichquartett musizierte.
Es war einer dieser wenigen Orte in welchen man eben nicht nur kulinarische Exquisin erstand, sondern für sein Geld diskret ein paar Stunden mehr an wollüstiger Lebenszeit zugesprochen bekam. Das Lokal garantierte für vollkommene Zufriedenheit des Kunden, was immer dieser auch verlangte. Selbstverständlich nur solange er auch den Preis leisten konnte. Dementsprechend war das Publikum: Frauen in bodenlangen Kleidern, kokett mit Diamanten versehen zwischen Männern in Anzügen die subtil vermittelten nicht von der Stange gekauft worden zu sein. Man sprach über Politik, den Handel und Geld, womit im Grunde das Gleiche gemeint war. Über vergangene und bevorstehende Bälle und das unmögliche Verhalten der Abwesenden. Disputierte die jüngsten Skandale aus der Presse, bezog für diesen oder jenen Senator Partei und versuchte die eigenen Unannehmlichkeiten zu vertuschen, indem man die der Anderen herausstrich. Der Unterschied zu anderen, ähnlich noblen Clubs war der, dass man in diesem Etablissement noch frei und unbefangen reden konnte, sofern man sich der Loyalität des Gesprächspartners sicher war. Man musste nicht fürchten, sich plötzlich in polierten Polizeimarken gespiegelt zu sehen. Kein noch so dreister Denunziant würde ein in diesen Räumen gesprochenes Wort hinaus tragen. Dafür waren etwaige Konsequenzen auf die Antwort nach der Frage; wo genau er dies denn gehört haben wollte; zu fatal. Man war nahezu sicher vor allen Überraschungen, insbesondere denen unangenehmerer Natur. Niemand dürfte es wagen hier einen anderen Gast zu belästigen. Ein Asyl von erlesener Qualität.

Wenn überhaupt, so würden die Kriminalbeamten schüchtern zum Oberkellner treten, und diesen bitten dem Herren in Loge 73 auszurichten sie würden am Hinterausgang warten und er möge sich ruhig Zeit lassen. Vorausgesetzt sie brächten überhaupt genug Mumm und Beweise zusammen um jemanden aus dem Klientel des Lokals einer Straftat zu bezichtigen.

Einer der unbekannten Größen aus den ledernen Sesseln am Kamin hustete trocken, während er seine Pfeife stopfte. Mehrere Damen in mittleren Jahren traten aus einer der verhangenen Logen und strebten unter unbeschwertem Geplapper den Toiletten zu, während der Ober ein paar bereitstehenden Dienern signalisierte sie mögen sich nach den Wünschen der verbliebenen Herren erkundigen. Derweil orderte eine Gruppe von jungen Männern im hinteren Teil der Räumlichkeiten eine nächste Runde an Getränken, deren Gegenwert sich ein durchschnittlich verdienender Mensch nie würde leisten wollen. Eine Frau zog an ihrer langstieligen Zigarette und die Türen des Haupteingangs schwangen auf.

Als die schweren abgedunkelten Türflügel sich wieder schlossen, huschten noch ein paar Geräusche des so fern und unwirklich wirkenden Straßenlärms hinein, glitten unter den zwei Beinpaaren der Neuangekommenen hindurch, um dann im allgemeinen Konzert der Lokalgeräusche unterzugehen. Abgesehen von den wachsamen Blicken des Oberkellners blieb das Paar unbeachtet. Die Frau sah sich neugierig um, jedoch nicht so ehrfurchtsvoll wie man es erwarten dürfte, wüsste sie wirklich wohin ihr Begleiter sie gebracht hatte. Er wiederum schenkte der Kulisse keinerlei Aufmerksamkeit, reichte einen langen Mantel der Garderobiere und half seiner Begleitung aus dem ihren. Ein heller, grauer Anzug und ein mattblaues Kleid kamen zum Vorschein. Einer der Pagen die unbemerkt hinter den mit grünem Brokat verzierten Vorhängen warteten, führte das Paar durch die schmalen Gänge. Vorbei an den hohen Ohrenbackensesseln in welchen die beleibten und betuchten Stammgäste saßen und sich Tabak rauchend über ihre speziellen Nöte und die Sorgen der Nation im Allgemeinen unterhielten. Vorbei an den Logen deren Vorhänge geschlossen waren und so dem Wunsch nach Ruhe und Diskretion Ausdruck verliehen, bis hinein in die, der Straße abgewandten, Bereiche des Lokals. Dort entspannten sich jüngere Jahrgänge auf Diwanen. Man sah durch die völlig verglaste Rückseite des Hauses auf die Stadt hinunter, welche im Licht des frühen Winterabends lebte und brodelte. Der rot gewandete Page wies den beiden jungen Leuten eine Chaiselongue zu und huschte davon um den geäußerten Getränkewünschen zu entsprechen. Derweil setze sich das Paar. Die in blau gehüllte Frau wirkte, nun wo es galt ein Gesprächsthema zu finden, kindlich verlegen und sah auf ihre zierlich, blassen Hände hinab. Ihr Gegenüber gab sich sehr viel entspannter, lockerte seinen Schal und ließ sich in seine Kissen sinken, um den Blick durch die Scheiben auf das Treiben weit unter ihm auf den Brücken und in den Gängen der Stadt zu lenken. Am Horizont hoben sich dunkel die Silhouetten der großen Stadttürme von dem noch hell erleuchteten Firmament ab. Sie war zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen lassen zu können, doch man sah ihnen an mit welcher Kunstfertigkeit sie beschaffen waren. Denkmäler, für die Ewigkeit geschaffen. 

Weiter unten, dort wo sich die Schatten der Türme im Wald der niederen Gebäudeschluchten verloren, lag wenig mehr in Dunkelheit: Alles war beleuchtet, funkelte und blinkte. Von hier oben sah es aus, als würde die Häusermasse, beinahe organisch, pulsieren. Besonders große Werbetafeln, die sich über mehrere Häuserzeilen erstreckten, konnte man aus dem Neonmeer unterscheiden, der überwiegende Rest ging jedoch hoffnungslos unter. Man sah die schmalen Stege und stählernen Leitungen auf denen die Züge der Hochbahnen wie rasende, glühende Würmer entlang glitten. Hindurch zwischen den Alkoven und Brücken die die Gebäude der großen Handelsfirmen miteinander verbanden. Weit über ihnen, am dunkler werdenden Abendhimmel zogen scheinbar träge Luftschiffe über die Stadt, wie gigantisch große, schwebende Wale, angestrahlt von den Kegeln der Scheinwerfer. Noch überwältigender als der Anblick der Stadt, dabei aber ungleich subtiler, war das Staccato der Geräusche, die das Leben in ihr von sich gab. Aus Myriaden einzelner Komponenten vermengte es sich und kam nur als ein fernes, undefinierbares Rumoren hier oben an den Scheiben des Lokals an. Dennoch blieb es ein nicht wegzudenkender allgegenwärtiger Ton, der einen zu überschwemmen versuchte, wenn man sich ihm nur zu sehr hingab.

Die Frau nahm all dies lediglich am Rande wahr, ihre Aufmerksamkeit galt dem Mann der so versonnen das ferne Treiben betrachtete. Sie blickte auf seine Erscheinung, über die verhärmten, eingefallenen Züge seines Gesichts, die Krater und Narben, die die Zeit auf ihm hinterlassen hatten. Er hatte dunkle Ringe unter seinen tief liegenden Augen, die einmal schön und lebendig gestrahlt haben mochten, jetzt aber matt und dumpf in die Welt starrten. Der Hochgewachsene schien sich dem Unbehagen seiner Begleiterin nicht bewusst und ebenso nicht gewillt von sich aus eine Konversation zu beginnen. Nach einigen Augenblicken straffte sich die Gestalt der jungen Dame. Als der Page plötzlich neben ihr auftauchte, zuckte sie zusammen, blieb jedoch weiter stumm als dieser routiniert zwei Gläser mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit zwischen sie auf einen kleinen Beistelltisch absetzte, um sich dann rasch zu entfernen. Ihr Begleiter, den das plötzliche Auftauchen des Pagen ebenfalls aufgeschreckt hatte, nahm eines der Gläser und nippte daran. Forschend sah er in das blasse Gesicht seines Gegenübers. Sie suchte dem Blick Stand zu halten. Einen Moment schien es, als wolle er etwas auf die stumme Frage in ihren Augen erwidern, doch stattdessen lehnte er sich wieder zurück in seine Liege und sah weiter auf den Brodem der Stadt hinab.

Zierliche, blasse Hände strichen widerspenstige Haarsträhnen beiseite, dann begann die junge Frau zu sprechen: “Wir sollten gehen, irgendwohin, wo uns niemand kennt und von dort aus sehen wie sie reagieren. Mein Onkel hat ein wunderschönes Landhaus im Süden, dort ist es jetzt noch herrlich warm. Du könntest dich entspannen und in aller Ruhe vorbereiten.“ Er drehte sich wieder zu ihr, beinahe unwillig: “Helen, du weißt, dass ich nicht kann, es käme mir vor wie eine Flucht. Und was meinst du würden sie denken, wenn ich mich nicht mehr zeigen würde, von einem Tag auf den anderen? Sie würden sich meinen Argumenten kaum öffnen riefe, ich sie ihnen aus sicherer Entfernung zu. Nein, es kommt überhaupt nicht infrage, dass ich mich verkrieche wie ein feiges Tier!“ Die letzten Worte hatte er scharf hinaus gestoßen, das Mädchen namens Helen zuckte zusammen und sah wieder auf ihre Hände. Er bemerkte, dass er sie mit diesen Worten verletzt hatte: „Helen bitte, du weißt, dass ich nichts lieber täte als mit dir zu gehen. Du weißt, dass ich mich nirgends auf der Welt so wohl fühle wie mit dir zusammen. Aber wenn ich jetzt nicht den Leuten zeige, dass ich für mich und meine Taten einstehe, dann würden sie sich wie ausgehungerte Schakale auf mich stürzen, wenn ich denn endlich in die Öffentlichkeit träte.“ Er sah von ihren großen, dunklen Augen zurück auf die Stadt und blickte gleichsam trotzig wie bang auf den hell erleuchteten Komplex des Justizpalastes der sich monumental zwischen den übrigen Gebäuden hervortat. Seine Haltung sackte wieder etwas zusammen und man sah ihm an, dass er nicht erpicht auf die kommenden Ereignisse war, denen er sich stellen musste. Helen blickte wehmütig und voller ehrlichem Mitgefühl auf ihn hinab. Still nahm sie seine herabgesunkene Hand und streichelte sie zärtlich. Ihr Mann reagierte nicht und so zog sie ihre Hände wieder zurück. Jetzt blickte auch sie hinaus in die anbrechende Nacht und traurig hin zum immer fernen Horizont. Dann sprach sie: “Sie hatten nicht das Recht uns derart in den Rücken zu fallen und das weißt du. Wer redet den von Flucht? Wir müssen uns vorbereiten, wenn du dich opferst, wem nützt das? Doch nur ihnen! Bitte, reiß dich zusammen und hör auf dich wie ein Märtyrer zu geben bevor du die Schlachtbank überhaupt gesehen hast. Mit etwas Geschick und Glück können wir alles noch zum Guten wenden.“ Sie setzte zu einem neuen Satz an, hielt inne und sah beunruhigt zu den Gruppen der anderen Gäste hinüber ob sie dessen Aufmerksamkeit erregt hätte. Diese jedoch waren viel zu sehr in ihre immer ausgelassener rezitierten Anekdoten vertieft, dass sie niemandem Beachtung schenkten. Missbilligend die Stirn runzelnd wand sich Helen von dem Anblick der jungen Männer ab und sah wieder auf den Liegenden hinab. Sie nahm nun auch von dem ihr gebrachten Getränk und stürze den teuren Inhalt wenig feierlich hinunter. Ihre Miene verriet, dass sie nicht an den Geschmack von Alkohol gewohnt war. Die junge Frau schauderte…


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Fortsetzung der Kurzgeschichte folgt.