Stille Zeugen

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Die Öffentlichkeit nähert sich dem Thema Kindesmissbrauch von der falschen Seite, weshalb nur?

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Von Hubertus J. Schwarz   17. Februar 2011



Ahrensburg, Deutschland – Deutschland hat ein altes Schreckgespenst, dass durch etliche neue Fälle, wieder an Interesse gewinnt. Doch dreht sich nicht die Aufmerksamkeit viel zu sehr um die Täter und zu wenig um die Opfer?

Still sind sie geworden, die Opfer und Zeugen von grausamen, verbrecherischen Taten oder sexuellem Missbrauch. Und als solche zeichnen sie sich auch aus, denn die wenigsten Betroffenen von Gewaltverbrechen trauen sich mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit. Sie versuchen allein und im Hintergrund mit ihren Erinnerungen fertig zu werden. Doch bleibt es meistens bei dem Versuch, die Bewältigung endet in chronischer Verdrängung und irgendwann in einer seelischen Zerrüttung, die nie mehr kurierbar ist.

Die Gründe für die Zurückhaltung der meisten Leidtragenden sind vielseitig, aber oft sehr menschlich und nachvollziehbar. Die einen haben schlicht Angst davor, sich dem Ereignis als solchem zu stellen, sei es auch nur in Form eines Gespräches. Zu schmerzlich sind die Erinnerungen daran. Andere treibt die Scham zur Schweigsamkeit, gerade Opfer von sexuellem Missbrauch. Dritte wieder fühlen sich in gewisser Weise mitschuldig an dem Verbrechen und fürchten eine öffentliche Ächtung.

Das Erschreckende daran ist jedoch die Tatsache, dass selbst wenn es jemandem gelingt, über die Schatten seiner Vergangenheit zu springen und in der Öffentlichkeit davon berichtet, was ihm widerfahren ist, die Menschen sich entweder kopfschüttelnd abwenden und die betroffene Person als mediengeil abstempeln oder aber sich wie die Geier auf den Täter stürzen. Früher gab es Pranger, heute gibt es Medien. So wie damals die Menschen im Morgengrauen aufstanden um mittags zu einer Hinrichtung im Nachbardorf zu sein, sitzen sie heute vor den Fernsehern oder klicken sich gierig durch das Internet. Die Opfer stehen allzu oft vergessen zurück, werden allein gelassen und müssen selbst mit ihren Problemen zurande kommen. Frei nach dem Motto: "Der Täter wird doch bestraft, was also willst du noch!?"

Besonders in Deutschland fällt die Abkehr des öffentlichen Interesses von den Opfern hin zu den Tätern auf. Es ist ja auch so viel einfacher jemanden zu bestrafen und andere dann aufräumen zu lassen. Das beginnt bei der schon so prekären Auseinandersetzung mit unserer Landesgeschichte. Zwar wird der ermordeten Juden allerorts und meiner Meinung nach auch sehr gewissenhaft gedacht, doch mit dem Gedenken der anderen Opfer des Krieges, im Besonderen der gefallenen Deutschen ist es sehr viel komplizierter. Im Grunde werden die meisten entweder als Kollaborateure und Mitläufer des national-sozialistischen Regimes oder aber als unentschlossene Zauderer über einen Kamm geschoren. Wer gedenkt schon gerne seines toten Großvaters, wo dieser doch für Verbrecher ins Feld gezogen ist. Wir betrauern die ermordeten Juden und verdammen die Nationalsozialisten. Aber ist damit wirklich allem Genüge getan? Derlei Beispiele ziehen sich wie etliche hässlich rote Fäden durch die Geschichte; wir alle kennen Namen wie „Jack the Ripper“, “John Wayne Glacy alias The Killer Clown“ oder „Dr. Harald Shipman“. Wer aber kennt die ihrer Opfer? Wohl die Wenigsten.

"Die Kriminalgeschichte ist nur die Geschichte der Täter. Ihre Namen werden überliefert, die Opfer dagegen bleiben namenlos. Sie wurden ermordet, gefoltert, geschändet, verbrannt. Das Gedächtnis der Nachwelt ist seltsam, Opfer haben darin keinen Platz."

So heißt es im Internet über das Wirken und die Wirkung von Gewaltverbrechen. Beinahe schon obligatorisch zentriert sich die mediale Aufmerksamkeit auf die Tat, die Motive des Täters und dessen Strafe. Zwar wird durchaus der Versuch unternommen, das Interesse auf die Opfer zu lenken. So etwa gedachten kürzlich erneut Hunderte Angehörige der Opfer des Amokläufers von Winnenden und in den Nachrichten wurde darauf verwiesen, dass dieser Akt der Bewältigung den Opfern galt, um Nachahmung und Verherrlichung der Verbrecher vorzubeugen. Doch sollte nicht an allererster Stelle Fürsorge stehen, anstatt der Angst vor Verherrlichung?

Die Täter müssen ihre Strafe erhalten, da gibt es überhaupt keinen Anlass zum Zweifel. Und zuallererst muss diese in der Missachtung durch das sonst so subtil wie morbide, öffentliche Interesse bestehen. Denn gesteigerte Aufmerksamkeit gibt den meisten kranken Geistern zu allererst die Genugtuung auch jetzt noch, in gewisser Weise, über dem Opfer zu stehen.

Unverzeihlich werden Verbrechen besonders dann, wenn sie an Kindern verübt werden. Und auch hier im so aufgeklärten Europa ist dies nicht nur durch Einzelfälle ein Problem, sondern grassiert regelrecht und in zunehmendem Maße. Laut Bundeskriminalamt ist der Konsum von Kinderpornografie in Deutschland, verglichen mit dem Jahr 2007 um 110% angestiegen. Nie zuvor gab es so viele dieser pädophilen Kranken wie heute und dass, durch die Ausbreitung von Aids, die Erwachsenen immer noch nach jüngeren Kindern verlangen, verschlimmert die Sache um ein Vielfaches. Denn je jünger das Opfer, desto geringer das Risiko sich mit einer Geschlechtskrankheit zu infizieren.

Trotz des öffentlichen Geißelns des sexuellen Missbrauchs von Kindern, etwa durch Königin Silvia von Schweden, die es als Sklaverei verdammte, werden die Fördermittel für Hilfsprojekte immer knapper. Besonders im Inland wird dieses Thema nach Meinung von Experten unterschätzt. Ein Versäumnis das nun, wo sich in jüngster Zeit die Bekanntmachungen über vergangene aber auch aktuelle Delikte dieser Art häufen, hoffentlich ausgeräumt wird.

Stephanie von und zu Guttenberg ist Mitglied und Präsidenten der Hilfsorganisation Innoncence in Danger. Diese setzt sich in mittlerweile 25 Ländern für missbrauchte Kinder ein. Auf deren Internetseite heißt es, dass ca. 30% der Handybesitzer wissen, dass gewalthaltige oder pornografische Foto- oder Videodateien im Freundeskreis kursieren, ein Umstand, der erschreckend anmutet. So setzt sich die Hilfsorganisation unter anderem stark gegen die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte über die Neuen Medien ein, organisiert Tagungen und Vorträge, die informieren und aufrütteln sollen und vermittelt Hilfe für die Opfer. Die engagierte Stephanie zu Guttenberg selbst warnt vor einer reinen Fokussierung auf die katholische Kirche, im Bezug auf die jüngsten Fälle von Missbrauch.

"Wir haben hier kein Kirchenproblem, wir haben ein Gesellschaftsproblem. Missbrauch ist nicht automatisch ein Problem von Lebenswegen oder religiöser Ausrichtung (...) die Kirchen haben die zusätzliche Herausforderung, dass sie so hohe moralische Ansprüche anlegen. Und wenn ich Moral predige, aber mich selbst nicht daran halte, fällt es natürlich härter auf mich zurück."

Viele, insbesondere Kirchenkritiker, nutzen diese Missbrauchsfälle um die katholische Kirche im Ganzen zu Geiseln. Die Folge sind zu oft schamlose, dreckige Schlammschlachten, in welchen die Angegriffenen sich ebenso hemmungslos verteidigen, wie sie durch die Kläger verurteilt werden. Die eigentliche Tat wird mehr und mehr zur Strohpuppe einer Grundsatzdiskussion und wieder sind die letztendlich Leidtragenden die missbrauchten Opfer. Der Umstand, dass in diesem Fall die Kirchen viel zu sehr damit beschäftigt sind, ihre generelle Lebensweise zu rechtfertigen, trägt zusätzlich dazu bei, dass eine Lösung für die eigentliche Problematik meist nicht in angemessener Form stattfindet.

Dies ist nur eines von vielen Projekten von und für Opfer und dennoch wird noch lange nicht genug getan. Das gilt uns allen. Jeder kann und sollte helfen, sei es in Form einer Spende, aktiver Hilfe oder auch nur durch Diskussionen und Interesse für das Thema, den Opfern vergessen zu helfen und im Gegenzug sie nicht zu vergessen. Kaum einer hat dies so gut auszudrücken gewusst wie der Sonderbotschafter von UNESCO und UNICEF Sir Peter Ustinov:

"Auf einem erwachsenen Gesicht sind Spuren böser Ernüchterung nichts Ungewöhnliches, absolut unzulässig sind sie jedoch auf dem Gesicht eines kleinen Kindes, das unter dieser Hässlichkeit vorzeitig gealtert ist. Hier ist nicht mehr von Dichtung die Rede, sondern nur noch von schierer Wahrheit, sie ist so hart und gemein, wie nur die Wirklichkeit sein kann."


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