Das andere Gesicht

© ahnugsvoll / Die Emprtöen / Zürich / 2012


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Occupy in Zürich – Tod einer Protestbewegung
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Von Hubertus J. Schwarz   31. Januar 2012

Zürich, Schweiz – Wenn der Wille allein nicht mehr trägt. Bei den Occupys ringt Engagement mit parasitärem Zerfall. Ein Einblick in den schleichenden Tod einer Protestbewegung.

Heute ist Arni für die Feldküche zuständig, er verteilt Suppe. Ist überall zugleich, scherzt und diskutiert mit den Leuten. Das krause Haar ist mit einem Federschmuck zurückgebunden. Seine olivgrüne Hose steht im Kontrast zu den orangefarbenen Sandalen. Der Mann ist vielleicht sechzig Jahre alt und er ist empört. 

Die Empörten, so nennt sich die Gruppe von gesellschaftskritischen Bürgern, die auf dem Platz vor der St. Jakobs Kirche in Zürich kampiert. Der Name soll ihre Wut über die soziale Ungerechtigkeit des Staates und der Banken ausdrücken. Die Empörten sind "Occupys". Aktivisten, die öffentliches Gelände wie Parks oder Plätze besetzen, um so Aufmerksamkeit zu erregen. Die Männer und Frauen von "Occupy Zürich" zählen zu einem losen Netzwerk von Protestierenden, die über den gesamten Globus verteilt auf Probleme hinweisen wollen. Sowohl an der Wall Street in New York, als auch in vielen europäischen Städten, gibt es Occupy Zellen. Insgesamt finden über 1.000 Aktionen dieser Art in 87 Ländern statt. 

© ahnugsvoll / Die Emprtöen IV / Zürich / 2012
In der Schweiz besetzten die Empörten zu Anfang den Zürcher Paradeplatz, erst wurden sie von diesem, Ende November auch aus dem nahegelegenen Lindenhof vertrieben. Der Kirchenvorstand von St. Jakob hatte daraufhin Asyl angeboten. Seitdem campen die Aktivisten auf dem Vorplatz. 

Die meisten Leute auf dem Gelände lungern herum und scheinen keiner bestimmten Aufgabe nachzugehen. Einige reden miteinander. Ein Obdachloser spielt auf seiner Gitarre. Jeder kann ohne Vorbehalte dazustoßen oder gehen. Offenheit, und vor allem Freiheit, wird von der Bewegung propagiert. Seitdem die Polizei den Lindenhof geräumt hat, ist die Menge der Protestler auf ein paar Dutzend zusammengeschrumpft. Vor drei Monaten waren es noch um die hundert. Begonnen hatte die Aktion am 15. Oktober. Weltweit gingen an diesem Tag Menschen auf die Straße um zu protestieren. „Seit über 40 Tagen besetzen wir schon!“, erzählt Kapi. Er ist einer der jüngsten Occupys. 


Ein Hüne, gewachsen wie eine Nordmanntanne, steht er in seinem verdreckten Kapuzenpullover und mit blauem Halstuch neben der Feldküche. Er redet wie ein Sturzbach. Von seinen Erfahrungen mit der Polizei. Spricht von Drogen und Abhängigkeit. Wie tief er abgestürzt sei. Und davon, was Occupy für ihn bedeutet. „Diskutieren, aktiv sein, informieren. Das macht uns aus. Wir wollen den Menschen sagen, was abläuft“. Er ist einer aus dem harten Kern der Protestbewegung. Sein Zelt steht geschützt vor dem Wind in einer Mauernische der Kirche. Tag und Nacht ist Kapi hier. Er erzählt auch über unsichtbare Mitglieder. 200 Leute, die alle für die Aktion arbeiten – angeblich. 

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Beim Suppe verteilen berichtet Arni von drei Kollegen, die noch immer in U-Haft sind. Sie wurden während der Lindenhofräumung festgenommen. „Manchmal eskaliert es halt.“ Sie sprechen mit Überzeugung über diese Bewegung der Empörten. Aber Arni und Kapi haben auch schon ein Leben abseits dieser friedlichen Art von Protest geführt. Keiner macht einen Hehl aus den Gewalt- und Drogenerfahrungen. In einem Moment sprechen beide enthusiastisch von ihrem Engagement für die Bewegung, im nächsten dann wieder resignativ über sich selber als Junkies.  Dann unterbricht ein Schrei die beiden.
Die Protestaktion zeigt ihr anderes Gesicht. Keiner weiß wer es war. Nicht einmal woher der Schrei kam. Bis einer der Occupys aus der Kirche stürzt und hektisch nach einem Arzt ruft. Im Damenklo ist ein älterer Mann zusammengebrochen. Ein Asiate. Er liegt beinahe regungslos am Boden. Leicht zuckt noch der linke Fuß. Neben ihm sein Gebiss. In seinen Taschen finden die anderen ein starkes Beruhigungsmittel und eine Flasche Wodka – eine gefährliche Kombination. 

Der Mann ist bewusstlos, hat kaum Puls. Seine Arme sind von Narben und Einstichwunden bedeckt. Am Körper hat er Schwielen und blaue Verfärbungen. Er gehört nicht wirklich zur Bewegung, hat aber, wie jeder der darum bittet, einen Schlafplatz im Zeltlager bekommen. Und er ist nicht der Einzige. Die Bewegung scheint zu einem Auffangbecken geworden zu sein. Von Bedürftigen wird die große Offenheit ausgenutzt. Die vielen persönlichen Probleme, die jeder in das Occupy Lager bringt, summieren sich zu einem großen Ganzen und sind im Begriff die eigentlichen Ziele der Aktion zu erdrücken.

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Der Notarzt wird gerufen. Das missfällt. Die Occupys wollen keine fremde Hilfe. Mittlerweile hat sich der ältere Asiate wieder gefangen und kann, gestützt von zwei Aktivisten, aus der Kirche gebracht werden. Draußen treffen die Sanitäter ein. Sie wollen die Situation unter Kontrolle bringen. Die Empörten empören sich über diese Bevormundung. Als Worte nicht mehr helfen, folgt Gewalt. Arni geht laut schreiend auf einen der Sanitäter los. Erst als man ihn das zweite Mal von dem völlig überrumpelten Mann gezerrt hat, beruhigt er sich allmählich. 

Dieses Verhalten zeugt von einem Berg aufgestauter Emotionen. Den Protest zu leben ist nicht so einfach, wie es vielleicht scheinen mag. Romantische Vorstellungen vom gewaltlosen Aufstand bleiben leider genau das – Vorstellungen.

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SPEZIAL:
Engagement – eine Notwendigkeit [Engagement II.]