Bon Appetit

© Wolfgang Schnuderl / Bon Appetit / joe 6 / 2013


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Containern oder Dumpster Diving – Vom Wühlen in Müll, der keiner ist
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Von Hubertus J. Schwarz   16. Mai 2013

Graz, Steiermark – Wer sagt eigentlich, wann etwas zu Müll wird? Und wer, dass man sich das, was andere für Müll halten, nicht noch einmal ganz genau ansehen kann? Vom Wühlen im Abfall und Essen aus Containern.

Es ist Nacht. Im Hinterhof des Supermarktes stehen die Müllcontainer im Dunklen dicht an dicht. Erst als der Schein einer Taschenlampe fahrig über die aufgereihten Tonnen streift, kann man ihre Aufschrift lesen: Papier. Bio. Restabfall. Plastik. Der Lichtkegel schwenkt zurück zur braunen Biomülltonne und verharrt.

Eine Gestalt in Kapuzenpullover, ausgestattet mit Stirnlampe und Arbeitshandschuhen macht sich am Inhalt des Behälters zu schaffen. Karfiol, Bananen, vier noch ungeöffnete Chipstüten. Alles frisch und genießbar. Wer nicht weiß, dass die Nahrungsmittel aus dem Abfall kommen, würde von alleine nicht darauf kommen. Wer es weiß, nun, der lebt damit. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Person unter dem ­Hoddie ist weder Bettler noch mittelloser Herumtreiber. Martin* ist Student, einer wie es Tausende in Graz gibt. Allerdings einer, der sich über die dekadente Verschwendungslust unserer Gesellschaft hinweg zu setzen versucht. Vielleicht also doch nicht einer, wie es Tausende gibt. Trotzdem, er ist kein Einzelkämpfer. Allein in Graz hat sich in den letzten Jahren eine lose Truppe von etwa fünfzig Leuten vernetzt, die regelmäßig im Abfall der Supermärkte nach Essbarem suchen. Containern nennt man das, oder internationaler dumpster ­diving – Container tauchen.

In der Hauptstadt hat sich das Containern mittlerweile organisiert. Etwa fünfhundert Menschen teilen die Wiener Bezirke untereinander auf. Gehen für ­eine, vielleicht eineinhalb Stunden auf Beutesuche und tragen danach alles zusammen, um es gerecht aufzuteilen. Von einigen Supermärkten haben die ­Containerer sogar ganz offiziell Schlüssel und Erlaubnis bekommen, den Abfall zu durchsuchen.

Im Gegensatz zu Deutschland ist es in Österreich grundsätzlich legal, Dinge aus dem Müll zu nehmen. Denn alles, was erst einmal weggeworfen ist, gilt hier als herrenloses Gut und steht somit der Öffentlichkeit zur freien Verfügung. Verboten ­ist nur, sich unerlaubt auf fremdem Grundstück aufzuhalten.

Solche sozial- und konsumverantwortlichen Supermärkte bilden jedoch nur einen verschwinden geringen Teil der Branche. Die marktbeherrschenden Ketten gehen bestimmt, teilweise rigoros gegen diese Endverwertung ihrer Produkte vor. In der Regel engagieren von Dumpster-Divern frequentierte Supermärkte eine Nachtwache für ihre Mülltonnen. Erwischte Containerer werden wegen Hausfriedensbruch angezeigt. Doch schon in provinziellen Gegenden wie Graz nehmen die Methoden vieler Unternehmen radikale Züge an. Martin berichtet von Supermärkten, die ihre Lebensmittel mit Chemikalien ungenießbar machen, bevor die Produkte in den Müll wandern. "Eine bekannte Dumpsterin hat die geruchlosen Mittel nicht gleich bemerkt und sich schwer vergiftet."

Die Sorge beruht auf einem befürchteten Flächenbrand. Die Supermärkte wollen verhindern, dass ihre Konsumenten sich bewusst werden, wie beliebig der Markt Preise festsetzt und wie willkürlich die Grenze zwischen vornehmlich schlechten und noch akzeptablen Lebensmittel gezogen wird.

Der Beutezug geht weiter. Nach Zielpunkt sind ­Spar und ­Billa an der Reihe. Abgesehen von eingeschweißten Packungen mit Kohl, Tomaten, Gurken, Paprika und Lauch gibt es nichts zu holen. Nahrung mit einem geschätzten Verkaufspreis von 20 Euro findet mal eben so einen neuen Besitzer. Das potenzielle Salatbüfett wird aus dem Müll errettet und bedankt sich artig.

In Österreich werden von einem einzigen Supermarkt durchschnittlich 45 Kilo pro Tag an noch genießbaren Lebensmitteln weggeworfen. Dazu reichen angekratzte Verpackungen oder ein abgelaufenes Haltbarkeitsdatum schon aus. Und das obwohl dieses Datum lediglich den „Erhalt optischer Eigenschaften“ garantiert und dabei nichts über die Genießbarkeit aussagt.

Generell herrscht am europäischen Nahrungsmittelmarkt eine beeindruckende Überproduktion. Etwa die Hälfte aller Lebensmittel landet unverbraucht im Müll. Schon davor fallen allein ein Drittel aller überhaupt produzierten Kartoffeln, Gurken, etc. durch die strengen Richtlinien der europäischen Handelskasse. Diese Institution ist für Kontrolle und Bewertung aller Lebensmittel und der damit verbundenen Dienstleistungen zuständig. Konkret sieht das dann so aus: Ein Computer misst die Krümmung der Banane. Ist sie auch nur einige Millimeter zu krumm, schrillt der Alarm los. Militär und Einsatzkommando Cobra rücken an. Der Strahlenschutz verteilt gratis Geigerzähler. Das Gebiet wird weiträumig abgesperrt. Dann gehen alle gemeinsam auf die mutierte Banane los. Es folgen Lynchjustiz und am Ende will es dann wieder keiner gewesen ­sein...

Das, was der Endverbraucher schließlich aus den Regalen fischt – die Models unter den Lebensmitteln – landet zu Hause dann viel zu oft auch wieder ungebraucht im Mistkübel.

Es kommt zu schrägen Begegnungen, wenn man in der Nacht durch die Hinterhöfe der Supermärkte streift. Während der Dumpsterer sich an einem großen Container von Billa zu schaffen macht, warten zwei dunkel gewandete Herren, offensichtlich nicht von hier, neben ihrer schwarzen Limousine ungeduldig darauf, wieder ungestört zu sein. Wo die Liebe hinfällt...

Im Abfall des nächsten Geschäftes, einem Zielpunkt, warten Dutzende Chipstüten. Alle aufgerissen. Zufall oder böse Absicht der Filialleitung? Die Chips liegen am Boden des Containers verstreut und sind damit nun wirklich ungenießbar. Auch wenn der Begriff im Laufe der bisherigen Nacht eine radikale Neubewertung erfahren hat. Aus der im ersten Moment erhofften Chips & Dips Orgie wird wohl doch nichts.

Das Dumpstern muss aber nicht nur für den eigenen Bedarf sein. Die Grazer ­Volksküche organisiert wöchentlich ein üppiges Essen. Mitkochen oder auch nur mitessen kann jeder. Mit nur einem Kleinbus fahren die freiwilligen Helfer eine knappe Stunde durch Graz und holen aus den Mistkübeln der Stadt Lebensmittel für über hundert Personen – 60min: 4 Freiwillige + 1 Kleinbus = 100x Essen – "bisher ist die Rechnung jedes Mal aufgegangen." Erzählt Martin.

Das Wühlen geht weiter. Letzter Stopp des Abends: Billa. Hinterhof. Groß und bedrohlich ragt der Container vor dem Dumpsterer aus Graz. Und doch hantiert Martin geübt und sicher an den Verschlüssen herum. Man kennt sich halt mittlerweile. Bereitwillig lässt sich der Schlund des Müllcontainers öffnen. Der Schein der Stirnlampe fällt auf ein rotes Meer. Bergeweise saftigrote, köstlichfrische Erdbeeren schauen herauf und schreien ihr Stummes „iss uns, iss uns!“ in die Nacht.



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*Die Namen von der Redaktion geändert 
Die Ganze Geschichte gibt es in joe06 zu lesen.