Wie Goethe auf die Farben kam

© Anna Spindler / Wie Goethe auf die Farben kam / joe 7 / 2013
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Auch Dichterfürsten haben Hausdrachen 
– Eine Momentaufnahme
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Von Hubertus J. Schwarz   11. November 2013


Graz, Steiermark – Für unser Verständnis der Farbenwelt ist sie von großer Bedeutung. Für Johann Wolfgang von Goethe galt sie mehr als sein gesamtes, übriges Werk. Die Farbenlehre. So oder so ähnlich könnten sich die Augenblicke nach der Entdeckung zugetragen haben. Eine Momentaufnahme.

Es war um das Jahr 1790 als Johann Wolfgang von Goethe hektisch aus dem Arbeitszimmer im ersten Stock stürmte, seine geliebte Christine am Arm fasste und sie in die kleine Kammer drängte. „Sieh!“, krähte er ihr aufgeregt und aus nächster Nähe ins Ohr. „Sieh, wie es sich bricht!“ 

Er deutete zum Fenstersims, auf dem im fahlen Licht ein geometrisches Etwas stand. Im Zentrum des Dings brach sich die Helligkeit, um als vielfarbiger, gleißender Strahl aus dem gläsernen Gegenstand zu scheinen. Das bunte Band aus Licht teilte die enge, mit Büchern, Kunst und allerlei Krempel vollgestopfte Kammer, um an der gegenüberliegenden Wand in einem hellen Fleck zu enden.

„Ist das nicht unglaublich?“ Johann stand da, Christine noch immer am Arm haltend, und sah mit verklärtem Blick auf den künstlichen Regenbogen. Christine auch. Doch lag in ihren Augen noch nicht mehr als ein Ausdruck scheuen Unverständnisses. „­Hmmhm, hübsch“, kam es nach langen Sekunden über ihre Lippen. Bei diesen Worten verzog sich das Gesicht des Begeisterten. „Hübsch, wie hübsch? Vor dir der Beweis, dass die gesamte Wissenschaft irrt und das Einzige, was dir dazu einfällt, ist hübsch!“ 

Nun war es an der blonden, kleinen Frau aufzufahren: „Johann, was um des Himmels willen soll der Unfug? Du verschanzest dich in diesem Kabuff, diesem elendigen. Schon seit Tagen sehe ich dich nur während der Mahlzeiten, wobei dir kaum mehr als drei Sätze zu entlocken sind, bevor du wieder verschwindest. Und um ­euer Hochwohlgeblüt nicht enden wollender Weisheit ja keinen Einhalt zu gebieten, warte ich artig wie das dumme Gretchen vom Lande. Tagein tagaus!“ Sie deutete empört auf den Grund der Aufregung. „Für das da!“ Der Unmut auf den Zügen des herzoglichen Geheimrats erreichte nun auch eine beachtliche Intensität. „­Weib…“ 

Die obligatorische Pause, um der Theatralik willen, wurde von einer sich effektvoll hebenden Augenbraue des Gelehrten und den sich verschränkenden Armen besagten Weibes ausgefüllt. „Weib, du redest Unsinn. Wenn du nichts mehr als dein zänkisches Geplapper beizutragen hast, während ich hier Pionierarbeit leiste, dann ­solltest…“ Er verstummte. Der Blick, mit dem ihn seine Christine maß, war diabolisch. Er reduzierte die erhabene Erscheinung des geadelt und geachteten Universalgenies auf die des achtjährigen Schuljungen Johann Goethes, der, in banger Erwartung eines Donnerwetters, mit von Raufereien zerrissenem Gewand vor der Mutter stand. 

Aber der befürchtete Monsun aus Vorwürfen und bitteren Tränen blieb aus. Stattdessen drehte sich die eben Erzürnte auf dem Absatz herum, stampfte unter Zuhilfenahme sämtlichen Gewichts, das eine so zierliche Gestalt aufbringen konnte, aus der Kammer, und donnerte im Vorbeigehen die Tür ins Schloss, dass man meinen konnte, die Franzosen hätten ihre Revolution ins Goethe´sche Heim verlegt.

Johann sank in den schweren Ohrenbackensessel hinter dem Schreibtisch und grübelte. Seine Gedanken über die Farben und das Helle und Dunkle waren so wichtig, dabei so einfach und für jeden doch offensichtlich. Aber wenn die Menschen dennoch nicht verstehen wollten, vielleicht auch einfach nicht konnten, wem nutzte diese Entdeckung dann noch? Wissen, das man nicht teilen kann ist nur halb so viel wert. 


Er begann in den Skripten zu blättern, die in kreativem Chaos vor ihm ausgebreitet lagen. „Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden.“ Stand da in fahriger Schrift, die geneigt war als ob es den Schreiber gedrängt hätte, seine Gedanken so schnell wie nur möglich auf das Papier zu bringen. Goethe nahm einen Federkiel auf, der auf einem der Papierstapel lag, tunkte ihn in das offene Tintenglas und begann weiter zu schreiben: „Die Menschen empfinden eine große Freude an der Farbe…“ Er hielt inne. 

Nach kurzem Nachdenken fügte er dem Satz ein „im allgemeinen“ hinzu. Und wieder zögerte er. Dann warf er die Feder auf die Arbeitsfläche, lehnte sich in seinem Sessel zurück und stierte in den vielfach irisierenden Strahl aus Licht. Dann zum Auslöser dieses beeindruckend unerfreulichen Intermezzos mit seiner Lebensgefährtin – dem durchscheinenden Gegenstand auf dem Fenstersims. „Dummes Ding!“ schnaubte er. „Selber.“ Erwiderte das Prisma.



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Den Rest der Titelgeschichte gibt es in joe07 zu lesen.
Illustration: Anna Spindler