Einmal Querfeld Wien

© ahnungsvoll / Almöhis am Brunnenmarkt / Wien / 2015
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Gabelstableridyll am Wochenmarkt, eklektisches Tingeltangel und Hafenjungs in Österreichs aufregendstem Furunkel
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Hubertus J. Schwarz   28. Februar 2015


Wien, Österreich – Das größte und gutartigste Geschwür der Alpenrepublik lässt sich schwer in einem Aufwasch abfertigen. Neben den konventionellen Tourismuszielen bietet aber auch die alte Dame Wien einige Zuckerl abseits der ausgetretenen Wege.

Wien, die alte Kaiserstadt. Über Jahrhunderte war sie das Zentrum des Habsburgerreichs. Die Ausmaße einer Großstadt erreichte aber auch sie erst im 19. Jahrhundert. Inzwischen hat sich die Einwohnerzahl bei 1,7 Millionen eingependelt. Damit rangiert sie im europäischen Vergleich der Hauptstädte zwar eher im Mittelfeld, für Österreich aber ist Wien ein geradezu überproportioniertes Urgetüm. Die 2,6 Millionen Menschen im Großraum der Stadt machen ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Bundesgebietes aus. Dementsprechend fokussieren sich Kultur, Kunst und Gesellschaft auf Wien. 

Was als Kapitol eines Vielvölkerstaats konzipiert wurde, derangierte nach den Gebietskürzungen von 1918 zum "Wasserkopf Wien", zum H₂O-KO/PF wie er von Restösterreich in gepflegter Hassliebe betitelt wird.

Durch seine Historie als Residenzstadt sind noch heute etliche mehr oder weniger repräsentative Bauten zu bestaunen. Allen voran hat es sich die Hofburg im Zentrum Wiens bequem gemacht. Ihr gegenüber errichtete das in den Zügen der Industrialisierung erstarkende Bürgertum ein Rathaus von ähnlich dekadenten Ausmaßen. Dessen Vorbild war der Senatssitz in Hamburg, durch den die hanseatische Bürgerregierung ihre vermeintliche Autonomie vorlebte. 

Rund um die, den ersten Wiener Bezirk umschlingende, Ringstraße reiht sich ein Prachtbau an den nächsten. Imperiale Hotels und Großbanken, in denen aufgeplusterte Fellmäntel herumstolzieren und den Oligarchenreichtum ihrer kalten Heimat zur Schau tragen, reihen sich an Parlamente, Opern, Kirchen, nationale Museen und alte Adelspaläste oder prunkvolle Palais. Die von Touristen belagerte Innenstadt kennt vor allem zwei gern verstopfte Zufahrtswege: Die Kärntnerstraße und den Naschmarkt.

Wem der Naschmarkt zu touristisch, überlaufen, eingestaubt, überkommerzialisiert, hipp oder eben gerade nicht mehr hipp vorkommt, dem sei der Brunnenmarkt in Ottakring empfohlen. Wiens längster Straßenmarkt ist, im Gegensatz zu seinem berühmten Pendant im sechsten Bezirk, eher ein Straßenbasar. Hier gibt es vornehmlich Obst, Gemüse und viel Hochgezüchtetes, das derart gespritzt wirkt, als würde es einem im nächsten Moment aus den Händen hüpfen und im Getümmel verschwinden.

Daneben präsentieren die Stände jedoch auch allerlei Gebrauchsgut und Kleidung. Es gibt Mikrowellen der ersten Generation, hundertprozentig echte Monaliesen oder viktorianische Porträts. Daneben werden Hemden und Hosen in Tarnfleck und mit ‚Ich bin ein Kampfpanzer‘-Aufdrucken feilgeboten – Sigmund Freud, dessen Praxis keine 2,5 Kilometer entfernt lag, hätte bei dem Versuch hier eine Deutungsebene abzustecken wohl einen mittelschweren Kollaps erlitten.

Für das schöne Geschlecht können nicht ganz so schöne Hüte im Stil Kreischbunt erworben werden. Alternativ gibt es etliche Kleider, die einen internen Wettkampf darum austragen zu scheinen, wer es schafft die meisten Pailletten zu stemmen. Im Licht des frühen Nachmittags hat das Ganze etwas von Freilichtdisko.

Dieser Pfuhl aus Leibern, Ständen, Kitsch und Nahrungsmitteln besteht bereits seit 1786, als Kaiser Joseph II. einen Auslaufbrunnen mit integrierter Trinkwasserleitung errichten ließ. Heute zeugt nur noch der Straßenname von seiner Existenz, der Brunnen musste um 1871 einer Straßenbahnlinie weichen. 


© ahnungsvoll / Brunnenmarkt /  Wien / 2015

Die vornehmlich mit osteuropäischem und nahöstlichem Kulturkontext agierenden Händler halten an allen sechs Tagen, die der Markt die Kaufwut der Wiener sättigt, fest an ihrem oft nur oberflächlich assimilierten Wortschatz. Seit Generationen wird das gebrochene Deutsch gehegt und gepflegt. Daraus resultieren so innovative Sprachblüten wie: „Frische Gemüse von Unterwegs!“ statt „Hier gibt es frisches Gemüse aus dem Ausland.“.

Höhepunkt bildet der Yppenplatz auf dem traditionell gegen Mittag der Ausverkauf stattfindet. Hier rangeln sich noch echte Hausmütterchen um die besten Obststücke und verschrumpelte Altwiener granteln gegen die Politik im Allgemeinen und den Fussball(trainer) im Speziellen. Inzwischen haben sich dort auch etliche studentische Cafés eingerichtet – das heißt dann wohl Lokalkultur, tatsächlich hat es auch etwas von verhipstertem Schaulaufen. 


Dennoch dominieren nach wie vor stilecht importierte Almöhis, die mit ihren Gabelstapeln, voll mit Frischgemüse, durch die Menge kurven. Wer da nicht auf Zack bleibt, der hat am Abend nichts mehr vor. Touristische Zuläufe werden entweder kurzprozessig niedergetrampelt und als Kollateralschäden verbucht oder direkt ignoriert. Fremdkörper wie Besucher mit dem hochexklusiven Gedanken, ihren Rollkoffer mitzuzerren, haben nicht nur ob des Kopfsteinpflasters keine Überlebenschance – ein idyllischer Morast aus keifender Marktatmosphäre und urbanem Evolutionsmassaker.

© ahnungsvoll / Hotel Am Brillantengrund / Wien / 2015
Das junge Hotel am Brillantengrund im siebten Wiener Bezirk steht synonym für das Großstadtgefüge aus verschiedenen Elementen.  Hinter dem teils modernen, teils gewählt urbanen Interieur lässt sich noch immer das rauchige Wiener Beislgefühl erahnen – das Hotel am Brillantengrund bietet so einen im besten Sinne eklektischen Charme.

Die philippinische Küche steht zwar im krassen Kontrast zur aufgepeppten Urhaftigkeit, ist aber nichtsdestotrotz eine gelungene Abwechslung zum Wiener Schnitzeleinerlei. In einem Lichthof, der durch seine einladende Aufmachung die Bezeichnung auch wirklich verdient, lässt sich der kulinarische Abstecher angemessen schmecken.

Im Herzen des Brillantengrunds pocht die Garage. Der Klub und Veranstaltungssaal bietet tagsüber Raum für Tagungen und die unterschiedlichsten Events. Lesungen, Konzerte, Kleidungsverkäufe und Empfänge haben in dem umgebauten Hinterhaus schon stattgefunden. Der Name verrät seine ursprüngliche Funktion. Jedes Wochenende zelebrieren dort außerdem die DJ’s des Musik- und Theaterkollektivs Tingeltangel mit ihrem zum mobilen Mischpult umgestalteten Piaggio APE 50 die österreichische Klubkultur.


© ahnungsvoll / Kneipen- und Imbissjuwele Hafenjunge und Natsu Sushi / Wien / 2015
Das Klischee vom günstigsten Sushimann ist beinahe so ausgelutscht, wie es die meisten Sashimi zu sein scheinen, nachdem man die Wolle-mitnehme-Bestellung  zu Hause auspackt. Mit dem hehren Ziel diesem Stereotyp etwas Schmackhaftes entgegenzusetzen, und vielleicht auch um ein wenig Geld zu verdienen, vollbringt die Natsu Sushi Bar in der U2 Passage am Museumsquartier kulinarische Kunst im Minutentakt.

Der Imbiss ist das dritte Standbein des inzwischen in Wien etablierten Restaurants mit Filialen im siebten und sechsten Bezirk. Das erste Lokal öffnete 2003 seine Pforten. Wer sich von dem grindigen Flare der Unterführung im Zentrum Wiens abschrecken lässt, verpasst rohe Köstlichkeiten mit schon unverschämt gutem Preis-Leistungs-Verhältnis. Die -50 Prozentmarke ist Programm, das Sushi, ob mitgenommen oder gleich gefressen, überaus genießbar.

Ihrem Quali- und Quantitätsvorsprung ist sich Inhaberin und Chefköchin Fangfang Jin dabei durchaus bewusst. Nicht umsonst prangt auf der Website des Restaurants der Leitspruch: Oft kopiert – und nie erreicht! 


Gefühlt im gegensätzlichen Kulturkontext macht es sich seit 2010 der Hybrid Hafenjunge als Agentur, Kneipe und Laden in der Esterhazystrasse des sechsten Bezirks gemütlich. Geführt wird die inoffizielle Botschaft des hanseatischen Nordens von Markus Handl. Neben Hamburger Exportschlagern wie Fritzkola, nur echt mit vielviel Koffein, oder dem Schmiermittel des Hafenproletariats Astra Bier bietet Hafenjunge auch Klamotten oder Accessoires im nordisch-by-nature-Stil und natürlich die Kreativdienstleistung. Das Grafik- und Designbüro macht neben der Kneipe das Zentrum der deutschen Kulturenklave aus.

Der pragmatischen Charme der Illustrationsschmiede lebt vor allem durch die WG-Stimmung. Nicht von ungefähr reflektierte sogar die lokale Presse die flexible Feierabenddoktrin nach dem Motto: „Wir machen heute für sie blau“. Das Ganze dokumentieren die Hafenjungs stilecht im Kneipenblog.

Wen es im austro-archaischen Wien nach der berühmt-berüchtigten Hamburger Kühle sehnt, der findet beim Hafenjungen zwar nicht die borstige Wattstimmung eines Hafenarbeiters, kann sich dafür aber eine Seemannsmütze vom Typ 'Amrum' oder 'Alaska' abholen und sich mit wohltuendem Mettbrötchen, Krakenrum und ein paar "Spitzen Steinen" eindecken – Na, dann ma tau!

Die Konkurrenz bleibt dabei oft genug auf der Strecke. Hauptsächlich aufgrund derartig fettleibiger Preise, die vor lauter Nachkommastellen kaum eine Fußnote vor die andere setzen können. Das gilt für überteuerte Schnitzel, gerade in bestimmten Cafés auf den Universitätscampusen, ebenso wie für maschuistische Großimbisse, deren Falafelfiasko wohl nicht einmal die ansonsten so formschnelle Küche nachtrauert.

Auch die oft zitierte Caféhauskultur hat viel von ihrem ohnehin spärlichem Charme verloren. Der Wiener Schmäh, Grant in Reinform, lebt nur durch seinen inneren Widerspruch. Dessen Botschafter sind die Kellner und Bedienungen, die zwar keine Miene verziehen und einem das Gefühl geben, als Kunde noch weit unter den Küchenschaben zu stehen, dabei aber einen akkuraten Service abseits des gekünstelten Gastwirtsgrienen bieten. Alles andere macht nicht nur den Eindruck von fahrlässigem Unvermögen, es ist tatsächlich ungenügend.

© ahnungsvoll / Barhaftig unterwegs / Wien / 2015



Für verirrte und wirrte Seelen, die es des nächtens durch den Stadtkern treibt, bietet die Fledermaus ein unterhaltsames Asyl. Hier versammelt sich alles, was Rang an den Staat und den Namen an die Eifrau verloren hat, um sich von den letzten Scheinchen einen hinter die speckige Binde zu gießen. Wem der Anblick frustrierter Mittfünfziger und ihren sehr silikonhaltigen Hostessen nicht geheuer ist, der verpasst zwar einige amüsante Stunden, wird aber nicht leer ausgehen. Nur ein paar Straßen weiter versteckt sich die Bonbonniere. Gemessen an den Quadratmetern im Vergleich zu den abnormen Preisen der Getränkekarte, Wiens teuerster Fleck. Fotos zu machen ist verboten, der Anblick aber an sich recht herzig.

Wer akkurat zu Feiern gedenkt, der wird um Adressen wie die grelle Forelle oder die Passage zunächst nicht umhin kommen. Tatsächlich ist dabei aber meist ein Besuch ausreichend, um von sich sagen zu können, man hätte es selbst in Augenschein genommen. Ein zweiter Blick lohnt nur ausnahmsweise. Außergewöhnlich abstürzen lässt sich dort meist nicht. 


Wer es nicht gar so allgemein mag, der landet über kurz oder lang im Bermudadreieck. Im Schatten des Stephansdoms drängen sich Bars mit Klub-Charakter und den unterschiedlichsten Ausrichtungen. Von Königlich bis Kaktus, Gnadenlos und Philosoph oder Casablanca und Krah Krah... der gepflegte Selbstversuch steht hier auf dem Programm, der Absturz heißt dann im Lokalkolorit: Abfuck-Sandler-Wabbler-Scheiße.

Wirkliche Feierabendstimmung kommt in den Kneipen jenseits des ersten Bezirks auf. Dort wo sich die Gier den touristischen Markt abzugreifen noch nicht vollends durchgemogelt hat. So bieten Pubs wie das Dublin oder die unzähligen Beisln Zerstreuung und neue zwischenmenschliche Bekanntschaften. 


Im Besonderen trifft das auf die Kioske und Trafiken zu, die ihre Spätschichten bis in die Nacht hinein verlängert haben. In einem Land, das nach wie vor Öffnungszeiten wie in den frühen sechziger Jahren praktiziert und die Gehsteige schon um 19Uhr steilstellt, da pulsiert das Leben um die wenigen Oasen der Geselligkeit, und seien es auch nur ein paar bescheidene Tabakläden.

© ahnungsvoll / Prater bis zum Horizont / Wien / 2015

Für all jene, die am Morgen noch aufrecht staksen und wieder besseren Wissens lauffreudig eingestellt sind, bietet der Prater ausreichend Auslauf. Das sechs Quadratkilometer weite Äquivalent zum New Yorker Central Park definiert sich primär durch den ganzjährig betriebenen Vergnügungspark – den Wurstelprater. Der Name, einer Figur des Volkstheaters entlehnt, steht Pate für primitive Kirmesklassiker und die weltweit erste Geisterbahn von Friedrich Holzdorfer 1933 errichtet. 

Neben diesen doch eher gewöhnlichen Außergewöhnlichkeiten des Vergnügungsparks umgibt der Wiener Prater auch noch ein weiteres staatstragendes Kuriosum – Die Republik Kugelmugel. 1971 von dem österreichischen Künstler Edwin Lipburger gegründet und durch Prozesse und Haftstrafen verteidigt, existiert das runde Gebilde mit seinen acht Metern im Durchmesser inzwischen als Sehenswürdigkeit. Weltweit haben sich über 600 Personen als Staatsbürger von Kugelmugel eintragen lassen. 

Die künstlerische Idee hinter Kugelmugel bildet der Gedanke, einen neuen Mittelpunkt abgesehen von dem der Erde zu etablieren. Die Kugelform als solche besitzt einen vom Erdkern in gewisser Weise abgekoppeltes Zentrum, durch das sich ein alternativer Fokus setzen lässt.

© ahnungsvoll / Mariahilfer Straße mit Gothic-H&M und Unikat-Jeans / Wien / 2015
Denjenigen, die dem Darein als Jäger und Sammler noch nicht abgeschworen haben, bietet vor allem die Mariahilfer Straße einiges an Konsumgütern. Die längste und am häufigsten frequentierte Einkaufsstraße Wiens zieht sich vom Stadtkern bis in den Außenbezirk Penzing. Für lauffaules Volk ist sie von mehreren Tram-, Bus- und U-Bahnstationen durchbrochen, die einem einsprunghaftes Abshoppen leichtmachen.

Hier gibt es von Österreichs bisher einzigem Geschäft für Jeans-Unikate, dem angeblich erstem Einkaufszentrum überhaupt oder einen H&M mit eigener Gothic-Abteilung bis zu allen überdrüssig bekannten Marken das größte Kaufangebot der Republik. Einen kompletten Rundumschlag bekommt, wer sich auch in die Abzweigungen und Seitengassen wagt.  

Ungeachtet von dem meisten Passanten existiert die Schneise über die die Straße heute führt schon seit vorgeschichtlicher Zeit, ein 1914 ausgegrabenes Stück Römerstraße belegt überdies eine frühe bebaute Phase im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Nach dem Vorbild des Walk of Fame in Los Angeles dürfen seit 1992 auch berühmte Österreicher auf der Mariahilfer Straße ihre Patscherchen verewigen.

Wem all das noch immer nicht genug ist, der findet hier noch mehr inspiratives Futter für die eigene Tour de Vienna.



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