Hoffnung im Pappkarton

© ahnungsvoll / Obdachlose Lajicha / Hoffnung im Pappkarton / Chicago / 2014
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Die Vereinigten Staaten haben ein Armutsproblem
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Von Hubertus J. Schwarz    24. Februar 2015


Chicago, Illinois – Amerika, die Weltmacht, die großartigste Nationen unserer Zeit, selbsternannte Weltpolizei. Die Realität im Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat wenig mit den Stereotypen der Vereinigten Staaten zu tun, die so verbreitet und vielzitiert in unseren Köpfen ankern. Armut und Elend bestimmen das Bild der Metropolen. 

Eh, das ist meine! Lasst meine Kiste los, das ist meine!“ – das Mädchen keift. Sie ist außer sich, der verwaschene Slang kaum zu verstehen. Ihre Stimme kippt ins Schrille, während die Jugendliche über den Gehsteig läuft. Sie hält auf ein Pärchen zu. Die beiden Touristen stehen am Rande der Dearborn Street. Sie fotografieren einander vor dem Hochhauspanorama im Herzen Chicagos. Um besser ins Bild zu passen, drängen sich die zwei auf einem Pappkarton. Sie haben die alte Kühlschrankverpackung aus einem Müllhaufen unter einer der vielen Brüstungen hervorgezerrt. Ihre Urlaubsfotos schießen die Touristen jedoch nicht auf einem beliebigen Altkarton, die beiden stehen auf dem Lebensmittelpunkt von Lajicha. Die Kiste ist Unterstand, Wohnung, Verkaufsfläche, Liebesnest des obdachlosen Mädchens in einem.  

Lajicha brüllt. Es ist kein verzweifeltes Schluchzen, nur laut. Das Mädchen kommt aus einer Welt, in der überlebt, wer nicht zurücksteht und seinen Willen über den der anderen hinweg schreien kann. Auch hier wirkt das Manöver Gut-Gebrüllt-Tiger. Das Fotogrinsen des Paares erstarrt beim Anblick der zeternden Halbstarken, die wild gestikulierend auf sie zuhält. Verschüchtert stolpern die beiden Touristen von ihrer improvisierten Aussichtsplattform und suchen das Weite. Einen Augenblick später sind sie im Großstadtgetümmeln des Loops, dem Stadtkern von Chicago, verschwunden. 

Lajicha schenkt den beiden nicht einen weiteren Blick. Sie rückt ihren Karton wieder an seinen Platz vor dem Gerümpelberg und beginnt in den aufgehäuften Säcken und vollgestopften Einkaufstaschen zu wühlen. Die junge Obdachlose sortiert ihr bisschen Leben. Zwei übereinander gestülpte Schlafsäcke, eine Plastiktasche mit abgetragenen Kleidern, etwas wie ein derangierter Kosmetikbeutel und Decken, jede Menge Decken. Die sind überlebenswichtig für die bitteren Winter in Illinois - und die harten Sommer, in der „Windy City“ am Lake Michigan können auch die Nächte im Mai noch klirrend kalt werden.

© ahnungsvoll / Lajicha die Künstlerin / Hoffnung im Pappkarton / Chicago / 2014
Chicago, die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten, zählt offiziell 2,7 Millionen Einwohner. Im Einzugsgebiet der Metropolregion sind es nahezu 10 Millionen Personen. Laut einer Erhebung der Initiative Povertyusa lebt jeder sechste Amerikaner in Armut, das entspricht etwa 46,2 Millionen Menschen, jeder Siebte ist dazu obdachlos – ein zunehmender Trend. Bereits 2010 stellte der United States Census einen Prozentsatz von 14,3 der Bevölkerung fest, der unter der Armutsgrenze lebt, 2008 waren es 13,2. Seit zwanzig Jahren steigt die Quote unaufhörlich. Die Vereinigten Staaten, das Land der millionenschweren Tellerwäscher und kapitalistischer Selbstverwirklichung hat ein Elendsproblem. 

Nicht nur in den Ghettos der Millionenmetropolen auch in den übrigen Städten verwahrlost ein Großteil der Bevölkerung. Ökonomen wie Ethan Harris identifizieren dies als eine Spätfolge der Wirtschaftskrise. Die vormals starke Mittelschicht wurde durch die sich auflösenden Kreditmöglichkeiten aufgerieben, Tausende Unternehmen mussten ihren Konkurs melden, Million Beschäftigte verloren ihre Anstellungen. Besonders spürbar manifestiert sich dieses entfleischte Unternehmertum in den Landkreisen und Vorstädten des amerikanischen Südostens. Entvölkerte Blocks, karge Ladenzeilen, verlassene Stadtzentren – betroffen ist vor allem der wirtschaftlich degenerierte Süden. 
Aber auch die vormaligen Industriestandorte Detroit, Chicago, Cleveland oder Pittsburgh veröden zusehends. In diesen Landkreisen liegen die Aufstiegschancen durchschnittlich unter 30 Prozent.

Die neuen Armen drücken in die Sozialhilfen und überstrapazieren das ohnedies limitierte Wohlfahrtsprogramm der Verwaltungsapparate – die US-Staaten sind nicht auf eine rückläufige Wirtschaftsentwicklung ausgelegt. Als „Kapitalismus im Endstadium, eine überlebte Ideologie.“ bezeichnete Kabarettist Volker Pispers in einer viel beachteten Rede die Situation in den Vereinigten Staaten. Wovon Pispers mit einem zynischen Augenzwinken sprach, scheint sich in der Realität als Dauerzustand zu etablieren. Von einer entsolidarisierten Gesellschaft warnt auch der Kölner Soziologe Jan-Christoph Kitzler mit einem unheilvollen Ausblick auf eine Angleichung Deutschlands an diese Verhältnisse. 

Hat das Schluckloch Armut einen erst einmal erfasst, ist ein Entkommen nur noch schwer möglich. Wie in allen modernen Industrienationen ist Arbeitslosigkeit ein stetiger Begleiter. Die nach wie vor anhaltende Abwanderung von Fertigungsstätten großerKonzerne  in Billiglohnländer lässt den Lohnarbeitssektor massiv einschrumpfen. Menschen mit mangelhafter Ausbildung haben es so immer schwerer, sich eine einfache Anstellung etwa als Lagerarbeiter oder am Fließband zu ergattern. Der Druck auf die ehemaligen Hochburgen der Industrie potenziert sich zudem durch die Sparzwänge der Wirtschaftskrise 2008. 

Aus dieser Entwicklung destillierte das National Poverty Center der Universität Michigan den sozialdemografischen Limes, nachdem Menschen mit einem jährlichen Einkommen von 11,344 Dollar, umgerechnet 9,952 Euro, als arm gelten. Dieser Wert differenziert sich unwesentlich, je nach Alter und Anzahl der Kinder.

Doch ist das amerikanische Elend kein neues, vielmehr ein wieder aufkeimendes Problem. Unter dem Eindruck tief greifender sozialer Missstände erklärte bereits der ehemalige US-Präsident Lyndon B. Johnson am 8. Januar 1964 der Armut innerhalb der Vereinigten Staaten den Krieg: „Diese Regierung erklärt hier und jetzt der Armut den bedingungslosen Krieg. Es wird kein kurzer oder einfacher Kampf, keine einzelne Waffe oder Strategie wird genügen, aber wir werden nicht ruhen, bis dieser Krieg gewonnen ist. Die reichste Nation der Welt kann es sich leisten, ihn zu gewinnen. Wir können es uns aber nicht leisten, ihn zu verlieren.“ Nie wieder sollte es zu einer großen Depression kommen. 
Heute, über 50 Jahre später, haben sich die Bedingungen für Arme und Obdachlose kaum verändert. Ihre Lebensumstände sind wieder auf dem Niveau von 1964 angelangt.

Für Menschen wie Lajicha bedeuten Johnsons Worte nichts. Sie bekommen das amerikanische Elend mit voller Härte zu spüren. Arme pilgern von einer Suppenküche zur nächsten, so lange, bis genügend Nahrung für einen Tag im Magen beisammen ist. Die meisten Mittellosen klappern dafür eigene, festgefahrene Routen ab. 

Diese Anlaufstellen sind oft überlebenswichtig. Eine 2013 ausgesprochene Gesetzesnovellierungen stellt zunehmend unter Strafe, bettelnden Menschen in der Öffentlichkeit Lebensmittel zu schenken. Damit soll das Elend aus den Städten verbannt werden. 2014 wurde der neunzigjährige Arnold Abbot verhaftet, weil er im Zuge seiner seit über 23 Jahren bestehenden Non-Profit-Organisation Love Thy Neighbour Nahrungsmittel an Bedürftige verteilte. Unter dem Eindruck dieser Repressalien wird der spontane Wohlfahrtsgedanke nachhaltig verkrüppelt. Frei nach dem Motto Aus-dem-Auge-aus-dem-Sinn verschwinden die Armen wieder in den Häuserschluchten der Sozialbauten – dort schwelen soziale Brennpunkte unter der Oberfläche unserer öffentlichen Wahrnehmung ungehemmt fort. Die verwahrlosten Labyrinthe aus Beton mutieren zu in sich geschlossenen Mikrogesellschaften, mit eigenen Verhaltensweisen und Herrschaftssystemen. Nach den Analysen des Wirtschaftswissenschaftlers Tom Hertz ist der Ausbruch aus dieser Kaste kaum möglich, die Isolation von Armen und Obdachlosen befeuert den Trend überdies.


© ahnungsvoll / Solidarität der Mitmenschen / Hoffnung im Pappkarton / Chicago / 2014
Wo die Solidarität der Passanten noch nicht verboten ist, kann sie den Bedarf der vielen Obdachlosen kaum decken. George, als Kriegsversehrter gezeichnet, verdient sich als Straßenmusiker ein Zubrot zu seiner Invalidenrente. Ohne die Unterstützung karitativer Vereine und lokaler Hilfsprojekte würde er seinen Lebensunterhalt nicht stemmen können. Es scheint zynisch, dass gerade die Verletzung, die ihn nach der Heimkehr bei der Arbeitssuche und dem Wiedereinstieg in das soziale Leben hinderte, nun einen Bonus im Überlebenskampf des Chicagoer Großstadtdschungels garantiert. 

George verlor sein linkes Bein bei einem Einsatz in den letzten Monaten des Vietnamkrieges. Ein im Grunde harmloser Streifschuss entzündete sich während den Märschen durch das unerbittliche Tropenklima des vietnamesischen Tieflands. "Gemerkt habe ich erst garnichts, bis es aus meinen Stiefeln nach faulem Fleisch gestunken hat. Da war mir klar, dass etwas nicht stimmt. Am Anfang war ich sogar froh, ich wusste nicht, dass sie mir das ganze verdammte Bein abnehmen. Ich dachte einfach, dass ich jetzt nach Hause darf." Erzählt George. Das wundbrandige Bein musste unterhalb des Knies amputiert werden. Stattdessen stützt sich der Veteran inzwischen auf eine stählerne Prothese, finanziert aus einem Fond der US-Army. Dies und die Ansprüche auf Zuschüsse aus den Versehrtenrenten bewahrten George zwar nicht vor dem gesellschaftlichen Abstieg, dennoch illustrieren sie die Bemühungen, besonders jene nicht gänzlich sich selbst zu überlassen, die für ihre Nation ihr Leben riskierten. Dort wo der Wohlfahrtstaat versagt, versuchen lokale Initiativen oder private Spendenaktionen den Menschen in Not zu helfen.

Einen tatsächlichen Unterschied macht es für George nicht – arm bleibt arm. Davon erzählen auch seine Lieder. Es sind Tribute an die pulsierenden Jahre der musikalischen Emanzipation innerhalb der afroamerikanischen Bevölkerung. Aufheulend wie Ray Charles oder mit dem rauchig-warmen Klang von Blueslegende Joe Lee Booker trägt George sein Aufbäumen gegen das Schicksal den Passanten der Michigan Avenue entgegen – Selbstreinigung in Klang und Ton.

© ahnungsvoll / Veteran und Musik / Hoffnung im Pappkarton / Chicago / 2014
Wer den Willen aufbringt sich auf die Sozialhilfen des Staates zu stützen, begibt sich auf eine bürokratische Odyssee, korrumpiert von überlasteten und mangelhaft geschulten Behörden. Ein Ursprung dafür ist das tückische Steuersystem der Vereinigten Staaten. Die Gemeinden und Städte sind im Besonderen auf die Einnahmen aus der Grundsteuer angewiesen. Diese bemisst sich jedoch, wesentlich strikter als in Deutschland oder Österreich, aus dem aktuellen Marktwert der Kommunen. Sinkt dieser, beispielsweise durch fallende Immobilienpreise während einer Rezension, schlägt sich das unmittelbar auf die Steuereinnahmen nieder. Je schlechter es einer Region geht, desto weniger Geld hat die Verwaltung, um den entstehenden Defiziten entgegen zu wirken. Die Schulung von Arbeitslosen, Kinderbetreuung oder Resozialisierungsprogramme können so kaum der gesellschaftlichen Abwärtsspirale Einhalt gebieten.

Die Folgeprobleme der Armut – Kriminalität, Drogensucht, die Unfähigkeit sich beruflich oder sozial fortzubilden, disqualifizieren einen Großteil der Menschen. Genau Daten sind dabei jedoch schwer zu ermitteln, die Dunkelziffer der nicht registrierten Armen liegt wohl deutlich über den Werten der staatlichen Volkszählung.

© ahnungsvoll / Lajicha und ihre Bilder / Hoffnung im Pappkarton / Chicago / 2014
Obwohl Lajicha als Frau und Afroamerikanerin statistisch kaum eine reelle Chance hat, der Armut zu entkommen, zählt sie doch zu den hoffnungsvollsten Kandidaten für eine Resozialisierung. Vorausgesetzt sie wird von einem der Hilfsprogramme aufgefangen. Bisher hat sie es geschafft, weder drogenabhängig noch schwanger zu werden, beides stigmatisiert eine Obdachlose in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit als hoffnungslosen Fall. 

Das Mädchen bestreitet ihren Lebensunterhalt mit dem Betteln im Stadtzentrum und dem gelegentlichen Verkauf selbst gemalter Bilder auf Papier oder Kartonstücken. Es sind infantile Zeichnungen, so liebevoll wie unbehände mit Filsstiften oder Wassermalfarben gepinselt. Ihre Werke sind abstrakte Schlüssellöcher in eine Welt, wie Lajicha sie sieht - bunt, verwaschen, hauchdünn auf die raue Pappe der Wirklichkeit aufgetragen. 

Die Deutungsebene hinter Lajichas Bildern bleibt schwer zu dechiffrieren. Es kommen einem die Worte der ersten afroamerikanischen Preisträgerin des Pulitzerpreises, Gwendolyn Brooks, in den Sinn. Die ebenfalls in Chicago aufgewachsene Dichterin schrieb, schon in fünf oder sieben Silben könnte echte Größe stecken. Es braucht kein überbordendes, episches Werk um Wahrhaftigkeit auszudrücken.

Zehn Dollar verlangt das Mädchen für eine Zeichnung, kaum jemand zahlt diesen Preis. Eines der Bilder kostet fünfhundert Dollar, es zeigt geometrische, ineinandergreifende Formen in blau, grün und rot. Warum Lajicha ausgerechnet für dieses Werk so viel Geld möchte, verrät sie nicht. Nur soviel, sie möchte einmal von ihrer Kunst leben können, richtig leben. Trotz allem behält sie ihre Hoffnung an den amerikanischen Traum.





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